Das knarzende Alsion

Sonderborg von oben
Sonderburg an der Mündung des Alsen Sund in die Flensburger Förde. Foto: Lars Plougmann. Quelle + Rechte

Der Alsensund ist eine acht Kilometer lange dänischen Meerenge. Sie trennt die Insel Alsen vom Festland und mündet auf der Südseite in die Flensburger Förde. Weit mehr als ein Dutzend Mal habe ich den Sund in offenen oder geschlossenen Booten durchsegelt oder zumindest vor der Altstadt von Sonderburg (dänisch: Sønderborg) und dem dortigen Schloss fest gemacht. Meine Frau und mich verbindet ein abenteuerlicher Jollentörn von der Schlei aus mit dieser Stadt.

Wir waren frisch verliebt. Aber das Wasser war kalt und kabbelig. Einige unerwartete Brecher flossen direkt in die Ärmel ihrer gelben Öljacke und ihren Rücken hinab. Zwischendurch nieselte es. Der Nordwestwind zwang uns dann auch noch, bis zum Leutturm Kalkgrund und auch nach dessen Passage umständlich aufzukreuzen. Die Nacht verbrachten wir dann, anders als geplant, nicht auf Luftmatratzen im Boot vor dem Schloss. Wir wärmten einander im letzten verfügbaren Hotelzimmer.

Schloss Sonderburg
Schloss Sonderburg. Foto: Erik Christensen. Quelle + Rechte

Sonderburg selbst ist leider gar nicht mehr so schön, wie es einmal gewesen sein muss. Vermutlich verfügte es früher über eine Bausubstanz ähnlich dem benachbarten Flensburg mit seinen zahlreichen bunten winkeligen Hofgängen und alten Gebäuden. Die Preussen aber haben die südliche Altstadt von Sonderburg mit ihren weit tragenden Krupp-Kanonen im Rahmen des deutsch-dänischen Kriegs 1864 ohne wirklichen strategischen Grund in Schutt und Asche gelegt. Nach der Annexion auch Nordschleswigs „bis an den Belt“ begann dann eine hässliche Diskriminierung alles Dänischen, an der aus heutiger Sicht einiges an den Beginn der Sprach- und Kulturkonflikte im ukrainisch-russischen Grenzgebiet erinnert.

Als wir Sonderburg vor einigen Jahren auf dem Rückweg von einer Fünen-Umrundung wieder einmal passierten, sahen wir erstmals den neuen, direkt am Wasser gelegenen kubischen Gebäudekomplex namens Alsion.

Das Alsion in Sonderburg mit dem Universitätsgebäude
Nüchtern und funktional: das Alsion im Eröffnungsjahr 2007. Foto: Erik Christensen. Rechte + Quelle

Das Alsion liegt auf der Festlandseite und beherbergt unter anderem ein naturwissenschaftliches „Forscherzentrum“, einen Campus der Süddänischen Universität und eine Konzerthalle. In den Folgejahren erzählten uns Bekannte aus Nordschleswig von der geradezu überragenden Tonqualität dieser Halle. In Wikipedia (Stand Juli 2016) heißt es: „Der Konzertsaal zählt zu den akustisch besten neuen Spielstätten seiner Art in ganz Nordeuropa“. Der Alsion-Homepage zufolge hat „die internationale Kritik“ den Raum aufgrund seiner akustischen Stärken sogar zu einer der „weltweit absolut besten Konzertsäle für klassische Symphoniemusik“ ausgerufen. Wir fanden, das wäre ein guter Grund, Sonderburg wieder einmal einen Besuch abzustatten.

Zu einer Hörprobe entschlossen wir uns jetzt, weil das Schleswig-Holstein-Musik Festival der Berliner Weltklassegeigerin (Formulierung der Festival-Homepage) Isabelle Faust auf Einladung der deutschsprachigen Nordschleswiger Minderheit Gelegenheit gab, in Sonderburg aufzutreten. Auf dem Programm standen zwei Haydn-Symphonien (G-Dur Hob. I:47 »Palindrom« und A-Dur Hob. I:64 »Tempora mutantur«) und zwei Violinkonzerte (Mozart, Violinkonzert D-Dur KV 218 und Haydn Violinkonzert G-Dur Hob. VIIa:4). Es wurde ein großer Hörgenuss, allerdings mit kleinen Fußnoten.

Isabelle Faust trat als perfekte Solistin der beiden Violinkonzerte dermaßen allürenfrei auf, dass ich von dem fehlenden „Glamour” zunächst fast enttäuscht war. Natürlich zu unrecht, denn es ging ja um die Musik. Alle vier Kompositionen dirigierte der auf historische Aufführungspraxis spezialisierte italienische Dirigent Giovanni Antonini, und es spielte das ebenso ausgerichtete und seit drei Jahrzehnten von ihm geleitete Kammerorchester „Il Gardino Armonico“. Das Orchester musizierte auf historischen Instrumenten. Erstaunlich fanden wir, dass alle Instrumente mit Ausnahme der Blas- und der großen Streichinstrumente während der langen, nur von einer Pause unterbrochenen Aufführung im Stehen gespielt wurden. Ob das Einfluss auf den Klang hat oder nur einer historischen Gepflogenheit entspricht, weiß ich (noch) nicht.

Die Halle ist vergleichsweise klein. Sie bietet 900 Zuhörern Platz und wirkt nüchtern. Innen ist sie fast nur mit hellem, glatten und vielfach untergliedertem Holz bekleidet. Es scheint, als gäbe es keine nennenswerte Fläche, die im exakt gleichen Winkel zum Innenraum steht wie ihr Nachbarstück. Um den Effekt dieser Gestaltung wirklich einschätzen zu können, müsste man aber wohl Toningenieur sein.

Was uns eindeutig fehlte, war atmosphärisch-emotionale Wärme. Ob Musik animierend oder unterkühlt wirkt, hat eben stets auch mit sinnlichen Nebeneffekten zu tun. Sie sind nur schwer erklärbar. Man kann sich ihnen auch nicht ohne weiteres entziehen. Musikalisch gab es an diesem Abend nichts, was uns missfallen hätte. Aber jedenfalls für mich gilt, dass ich alles als etwas synthetisch empfand. Das ist sehr subjektiv, vielleicht auch ungerecht und könnte bei einem anderen Konzert am gleichen Ort auch ganz anders sein.

Wirklich störend waren die Sitze. Sie bestehen, passend zum Ambiente, aus schwarz gestrichenem und mit rotem Stoff bezogenem Holz. Sie haben eine gemeinsame, die gesamte Reihe durchziehende Rücklehne, aber individuelle Sitzklappen. Seit der Einweihung der Halle im Jahr 2007 sind sie offensichtlich sehr strapaziert worden. Sobald sich einer von uns bewegte, knarzte und knirschte sein Sitz hörbar und störte nicht nur uns, sondern auch unsere Nachbarn. Wie wir bald merkten, hatten die Damen in der Reihe 10 hinter uns dasselbe Problem.

Trotz seiner strengen Form verfügt der Gebäudekomplex als Ganzer über eine angenehme Ausstrahlung. Das hat nach meinem Eindruck wesentlich mit seiner Lage am Sund-Ufer, dem freien Blick auf die weit gegenüber liegenden Häuser sowie den zwischen den Gebäuden und dem Wasser befindlichen sehr breiten, Veranda-artigen Bohlenflächen zu tun. Sie laden dazu ein, am Wasser zu flanieren oder sich direkt aufs Ohr zu legen und die Augen auf die vorbeiziehenden Segelschiffe und Ruderboote zu richten. Wer zum Studieren, zum Erfinden oder zum Arbeiten nicht zwingend auf ein Großstadt-Milieu angewiesen ist, kann sich hier wohlfühlen. Das gilt zumal für Tage wie den 13. Juli, an dem das Konzert stattfand. Dann mündet hier die Abenddämmerung übergangslos in die Morgendämmerung. Nachts sorgte der zunehmende Halbmond zudem auch noch für eine stimmungsvolle Heimfahrt. Wir erinnerten uns auf unseren bequemen Pkw-Sitzen mit wohligem Schauder an jenen nass-kalten Sommerabend, an dem wir Sonderburg erstmals gemeinsam anliefen.