Ein Brexit vor 500 Jahren

Terrasse der Bierkneipe „2be“
Schöne Terrasse einer Kneipe mit großer Bierauswahl und blödem Namen: „2be“. Aufgenommen vom malerischen Rozenhoedkaai („Rosenhutkai“) aus. Dieser Kai selbst gilt als die meistfotografierte Straße Brügges.

Zurück von einem Kurzurlaub im belgischen Brügge. Schöne Stadt mit guten Restaurants und Kneipen. Mit Freiluft-Terrassen, auf denen man sogar an kalten Tagen gerne ein Bier trinkt. Viele intakte historische Gebäude. Ein herrlicher mittelalterlicher Stadtkern, nie durch Krieg oder verheerende Flächenbrände oder Modernisierungsorgien zerstört. Ein Weltkulturerbe.

In dem Jahrhundert vor der Entdeckung Amerikas ist Brügge eine der reichsten Städte Europas. Sie bildet das Zentrum der europäischen Tuchindustrie. Handel und Tourismus blühen. Ein natürlicher Wasserdurchbruch verbindet die Stadt mit der Nordsee. Von London aus ist Brügge die nächstgelegene Großstadt auf dem Festland, Luftdistanz 235 Kilometer. Die Segelroute durch die Themsemündung führt fast geradeaus.

Auch die Künstler kommen. Jan von Eyck, der weltweit wichtigste Pionier der Ölmalerei und der berühmteste Vertreter der altniederländischen Stilrichtung, macht Brügge zur Wahlheimat.

Viel Geld bringen auch die Touristen. Besuchermagnet erster Güte ist seit 1291 die „Ampulle mit dem Blut Christi“. Gefäß und Inhalt kommen sogar 2009 noch auf die UNESCO-Liste wichtigster immaterielle Kulturerbschaften der Menschheit. Wobei nicht das Blutgefäß selbst gelistet ist, sondern eine Prozession mit der Ampulle, die sich hier seit 1291 jedes Jahr am Himmelfahrtstag vollzogen haben soll.

Auch heute noch strömen täglich Besucher in die Heilig-Blut-Basilika. Wirklich staunenswert ist, wie sich ab halb zwölf Uhr mittags die „Verering Relikwie“, die Reliequienverehrung, vollzeht. Wie sich Gläubige aufreihen, wie sie dann – immer jeweils nur einer – die Treppe rechts zum Altar emporsteigen, etwa einen Meter vor der Reliquie ein Geldstück oder einen Geldschein spendet, dann einen Schritt weitergeht, die Ampulle ins Auge fasst, anscheinend ein Gebet spricht, sich von einem Priester etwas in die Hand drücken lässt und den Altar über die linke Treppe wieder verlässt.

Jeweils bevor sich eine neue Schlange auf den Weg macht, erklärt ein anderer, jüngerer Priester den zahlreich zuschauenden Nicht-Katholiken auf flämisch, englisch und französisch, dass es sich hier um keine Touristenattraktion handelt. Zu der für weniger Überzeugte spannendensten Frage, nämlich was sich nach der Überzeugung der heutigen Prister tatsächlich in dem Gefäß befindet, sagt er leider nichts.,

Ab 1450 haben die Brügger Grund, um ihre einzigartige Stellung zu fürchten. In diesem Jahr verlegt die mächtige Londoner Handelsgesellschaft Merchant Adventurers das Zentrum ihres Tuchhandels in das nahe Antwerpen. Die Brügger versuchen vergeblich, die Schelde, den Nordseezugang der aufblühenden Konkurrenzstadt, zu blockieren.

1488 wagt Brügge einen tollkühnen Sprung ins Ungewisse. Die Stadt verhaftet den „Erzherzog“ – und späteren Kaiser – Maximilian (den so genannten „letzten Ritter“, 1459 – 1519, ab 1508 Kaiser). Die Stadtoberen halten ihn fünf Monate in einem Haus am Großen Markt gefangen. Sie verlangen politische und wirtschaftliche Zugeständnisse von ihm. Vor Maximilians Augen foltern und köpfen die Brügger seine engste Gefolgschaft.

Der Sprung geht gründlich daneben. Kaiser Friedrich III., Maximilians Vater (1415 – 1493), rückt mit einem Heer an, und die Brügger lassen Maximilian schnellstens frei. Brügges Exit folgt auf dem Fuß. Die Stadt katapultiert sich aus dem Innersten europäischen Handelsgefüges an die Peripherie. Die Tuchindustrie ist schon rückläufg, und Maximilian streicht Brügge jetzt auch noch die wichtigsten weiteren Handelsprivilegien. Die Stadt hat dem wenig entgegen zu setzen. Schon um 1500 beginnt Brügges Nordseezugang zu versanden. Es fehlen die Mittel, den Wasserweg freizuschaufeln.

Der Glamour der Stadt allerdings bleibt noch für Generationen erhalten; ihre Schönheit sowieso. Noch 1510 kaufen zwei Brügger Händler Michelangelo in Italien eine Madonna mit Kind ab, verfrachten sie nach Brügge und stellen sie in der Liebfrauenkirche auf. 1525 kommt Albrecht Dürer, bewundert die Stadt und die Madonna.

Wir haben uns die Madonna jetzt auch angeguckt. Hätten wir so nahe an sie heran gedurft, wie die Prospekte glauben machten, wären wir noch beeindruckter gewesen.

Auch im 16. Jahrhundert arbeiten durchaus auch noch einige bedeutende Künstler in Brügge. Aber Antwerpen hängt Brügge bald auch auf diesem Feld ab. Es ist dann Antwerpen, wo Peter Paul Rubens (1577 – 1640) sein riesiges Atelier eröffnet. Brügge wird wirtschaftlich unbedeutend. Was vor allem bleibt, sind einige Spezialhandwerke, darunter florierende Diamantschleifereien.

Dass hier heute alles noch so aussieht wie vor 500 Jahren, ist aus unserer Sicht toll. Aber es beruht auf Brügges damaligem beschleunigtem und zu einem erheblichen Teil selbstverschuldetem Markt-Aus.

Kann man sich unmittelbar vor dem Brexit-Start mit dieser Brügger Geschichte befassen, ohne Parallelen zu sehen? Ich nicht. Heute in einer Woche, am 29. März, wird Theresa May die EU offiziell von der Absicht des Vereinigten Königreichs zum Austritt aus der Gemeinschaft unterrichten.

London muss dann aus einer Position der Schwäche verhandeln. Noch vor einem halben Jahr träumten illusionistische Engländer (die Schotten und Nordiren wollten ja keinen Brexit) laut von einer Zugehörigkeit zum europäischen Gemeinsamen Markt, einfach nur ohne Freizügigkeit. Der Traum ist geplatzt. Brügges Exit vor 500 Jahren erscheint mir im Moment wie ein Menetekel für den Ausgang des bevorstehenden britischen Ausstiegs.