Irrationale Hoffnung

Am Vormittag des 24. Januar las Lord Neuberger, der Präsident des Supreme Court of the United Kingdom, die Brexit-Entscheidung seines Gerichts vor. Ich hatte das vorhergehende Hearing im Dezember teilweise unter https://www.supremecourt.uk/ online verfolgt, und auch die jetzige halbstündige Urteilsverkündung  streamte mir mein PC-Monitor nun live an den Schreibtisch.

Die Entscheidung fiel im großen und ganzen so aus, wie es viele Millionen Brexit-Gegner unter den Briten und den Nichtbriten – darunter auch ich – erhofft hatten: Die Regierung ihrer Majestät darf das Parlament nicht übergehen, wenn sie dem EU-Rat gemäß Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union ihre Absicht mitteilt, die Union zu verlassen.

Aber was werden die britischen Parlamentarier nun mit ihrer Macht anfangen? Im Prinzip sind sich alle Kommentatoren darüber einig: Das Parlament wird den Weg zur Mitteilung nach Artikel 50 freigeben. Und was dann? Ist der „Point of no return” erreicht, sobald Theresa Mays Schreiben in Brüssel eingeht? Leider spricht sehr viel dafür. Eine spätere Wiederaufnahme des Vereinigten Königreichs müsste der Rat nach Artikel 49 einstimmig befürworten. Das ist nicht wahrscheinlich. Und wie steht es um die Chance, die Austritts-Miteilung auf halbem Wege zu widerrufen, bevor der Austritt vollzogen ist? Das ist politisches – und nicht weniger rechtliches – Neuland.

Wäre das möglich, würden im Laufe der Jahrzehnte zweifellos viele Mitgliedsländer von Zeit zu Zeit einen Artikel-50-Brief an den Rat richten und ausloten, zu welchen Bedingungen sie die Gemeinschaft verlassen oder in ihr bleiben könnten. Das spricht zumindest politisch gegen diese Möglichkeit. Und das müssen das britische Parlament und die dortigen Wähler in Rechnung stellen.
Die New York Times nannte gestern als wahrscheinlichstes Ergebnis des Supreme-Court-Urteils, dass es jedenfalls „die Bühne für einige heftige (Parlaments-)Debatten über die nächsten zwei Jahre bereitet” hat. Das ist bescheiden.
Aber immerhin: Binnen zwei Jahren können Stimmungen total drehen. So wie sich die Pro-Brexit-Meinung binnen Wochen aus einer Anti-Stimmung ergeben hatte, so wie das Pro-Trump-Lager binnen Tagen auf eine ausreichende Größe anwuchs, zumindest die Mehrheit der amerikanischen Wahlmänner zu erreichen, so kann sich auch der grundlegende Stimmungstrend auf der britischen Inselrepublik wieder in sein zuvor langjährig stabiles Gegenteil verwandeln. Und wenn den Tories dann eine Wahlniederlage droht, werden sie alles tun, um doch noch eine Notbremse in Ganz zu setzen. Dann wäre nur die Frage, ob die Bremse greift. Wahrscheinlich wäre der Point of no return dann bereits überschritten. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht lehnt das Parlament dann zum Beispiel das zwischen der Regierung und der EU ausgehandelte Exit-Paket ab, und die Regierung nimmt das zum Anlass, ihre Austrittsabsicht zu widerrufen.
Das ist vielleicht eine irrationale Hoffnung. Aber ich habe sie. Ich will einfach nicht, dass die Zentrifugalkräfte in der EU die Überhand gewinnen.