„Leaving the Club?“

Das Gebäude des Supreme Court of the United Kingdom
Das Gebäude des Supreme Court of the United Kingdom befindet sich in London gegenüber dem Parlament und direkt neben der Westminster Abbey. Foto: Christine Smith. CC BY-SA 4.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)

Gestern sowie heute Vormittag habe ich einige Zeit vor dem PC-Bildschirm verbracht und das Hearing des Supreme Court of the United Kingdom zum Brexit verfolgt. Gibt es an dem Hearing etwas, das ich positiv fand? Ja. Zum Beispiel, dass weder die elf Richter noch die verschiedenen für die Regierung auftretenden Kronanwälte Perücken oder Roben trugen.

Aber der Anlass des Hearings, der beabsichtigte Brexit, ärgert und berührt mich persönlich. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, der Gedanke daran nimmt mich so mit, wie mich heute vor vier Wochen schon die Wahl des dämlichen Donald mitgenommen hatte.

Ich gehöre zu denen, die als Deutsche schon in ihrer frühen Jugend eine starke emotionale Bindung an die Insel entwickelten. Zu denen, die sich vor Jahrzehnten persönlich freuten, als das Königreich der EWG beitrat. Zu denen, deren Jugendkultur ihre Prägung im Zeichen von Beatles und Stones erhielt. Und die sich gegenüber ausländischen Besuchern fremdschämten, wenn zum Beispiel Heintje oder Modern Talking auftauchten. Zu denen, die dafür dankbar sind, dass ihre Erziehung nicht unter deutschnationalem oder noch viel schlimmerem, sondern, unter aufgeklärtem, direkt und indirekt angelsächsichem Einfluss stand.

Es gab Jahrzehnte, während derer ich nicht ein einziges Mal im Vereinigten Königreich war. Das änderte nichts daran, dass ich zuhause beispielsweise einer derjenigen war, die gegen Margaret Thatcher einen so persönlichen Groll entwickeln konnten, als wäre sie Regierungs-Chefin Deutschlands. Und auch während solcher Jahre wuchs die Liste der inneren Bindungen. Diese Liste schließt durchaus auch Teile der USA ein und auch Frankreichs. Die Freiheitshelden, die – gelesen und ungelesen – mit ihren Thesen Teil einer innerer Heimat für mich wurden, haben auch deutsche Namen, auch französische. Ich bewundere Karl Marx, der für seine Veröffentlichungen wie besessen in der Bibliothek des British Museum in London schuftete, habe in jungen Jahren sehr viel von ihm gelesen und gelernt. Ich halte erhebliche Teile von Kapital II und III für verkannt oder interpretativ (allen voran durch Lenin) verdreht.

Aber in meiner persönlichen inneren Wertemischung haben die intellektuellen Helden rings um die Begriffe „Life, Liberty and the Pursuit of Happiness“ unter Einschluss des erstmals vom Engländer John Locke umfassend postulierten allgemeinen Widerstandsrechts eindeutig das Übergewicht. Sie waren rationale Aufklärer.

Deshalb kann ich die Unaufgeklärtheit, das Unverständnis für wirtschaftliche und rechtliche Wechselwirkungen, den Schaden, den die Briten mit ihrer Brexit-Mehrheit vor allen anderen sich selbst zufügen, einfach nicht begreifen. Ich kann meine Gedanken davon ebenso wenig abwenden, wie ich es könnte, wenn ich ein Auto mit hoher Geschwindigkeit auf eine Mauer zurasen sähe.

Die britische Regierung will die EU-Kommission ohne Beteiligung des britischen Parlaments im kommenden März von ihrer Absicht unterrichten, die EU zu verlassen. Ich gehöre zu den vielen, die das für dumm halten. Und ich bin natürlich nicht der einzige, der vermutet, dass dies längst stillschweigend auch die Haltung eine großen und weiter wachsenden Anzahl derjenigen ist, die öffentlich als Brexit-Befürworter auftreten. Noch eine Vermutung: Sie haben nur Angst davor, ihren Irrtum einzustehen. Das halte ich für das Aller-Unangenehmste.

Würde Regierungschefin Theresa May im März ihre Ankündigung wahr machen, dann hätte sie der EU zu dem Zeitpunkt nach Artikel 50 EU-Vertrag die Kündigung der britische EU-Mitgliedschaft ausgehändigt und das Land auf Isolation und Abstieg programmiert. Die Frist würde im Normalfall binnen zwei Jahren wirksam. Nur auf einstimmigen Beschluss aller anderen Mitgliedsländer könnte die EU den Briten eine Fristverlängerung gewähren.

Am 3. November untersagte das High Court of Justice der Regierung May, ihr Schreiben ohne vorherigen gesetzgeberischen Parlamentsbeschluss der EU-Kommission zuzuleiten. Dagegen legt die Regierung Berufung beim Supreme Court ein, der seit 2009 als Nachfolger des House of Lords das höchste rechtsprechende Organ des Landes bildet. Hier findet auch das Hearing statt, das das Gericht der Öffentlichkeit zur Zeit per Streaming zugänglich macht.

Was ich online mitbekam, empfand ich überwiegend nicht als angenehm. Das begann bei der Wortwahl. Wiederholt verwendeten die Richter salopp die Formulierung, beim Brexit handele es sich um ein „Leaving the club“. Ich hoffe nicht, dass dies auch eine innere Haltung kennzeichnet. Sie wäre das passende Gegenstück zu einem Eigenbild des Königreichs als exklusivem Gentlemen’s Club. Schließich gehört der Vorsitzende Richter Lord Neuhaus und eine mir nicht bekannte Zahl weiterer Richter dem feinen Garrick Club an, wo die männlichen Rechtsanwälte mit den Richtern Networking betreiben dürfen, wo Anwältinnen und Richterinnen aber als Mitglieder nicht willkommen sind.

Ich erlaube mir auch, die Grundrechtslage zu Gunsten der Briten anders zu sehen, als es die Richter für sich erkennen ließen. Nämlich so: Viele britische Staatsbürger haben inzwischen in Wahrnehmung ihrer, aus der EU stammenden, staatsbürgerlichen Grundrechte Unternehmen auf dem Festland gegründet oder hier eine Arbeit angenommen. Aufgrund dieser Handlungsweise erhielten sie auch das neue Grundrecht, hier zu wohnen. Auf dieses Grundrecht konnten sie sich verlassen. Es beruhte auf dem britischen Beitrittakt zur damaligen EWG zum 1. Januar 1973. Und dieser Akt beruhte auf dem vom britischen Parlament 1972 beschlossenen Beitrittsgesetz.

Jetzt hat in just diesem Parlament eine Mehrheitsfraktion, die der Tories, das Volksabstimmungsgesetz zum Austritt aus der EU beschlossen, das Gesetz, das dem Plebiszit am 23. Juni zugrunde lag und zur Exit-Mehrheit führte. Aus eigener Kraft hätte die Tory-Fraktion den Widerruf des Gesetzes von 1972 nie durch das Parlament gebracht. Sie hätte keine parlamentarische Mehrheit für den Verzicht auf die grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Freiheiten des Gemeinsamen Marktes gefunden. Nach der Volksabstimmung behauptet nun die von den Tories getragene Regierung, sie dürfe die Austrittserklärung aufgrund des Plebiszits abgeben, ohne das Parlament noch einmal zu beteiligen. Und ich bin mir sehr unsicher, ob die britischen Richter das zurückweisen werden. Aber wenn sie es zurückweisen und wenn sie es auf die richtige Weise tun, gibt es noch Hoffnung für die Vernunft.

Kronanwalt James Eadie hatte gestern ein wunderbares Beispiel zur Hand, um zu zeigen, warum die Regierung nach dem „Common Law” schon immer über das exekutive Vorrecht (die „Prärogative“) verfügte, die territoriale Reichweite der Grundrechte ihrer Bürger zu bestimmen: Die britische Regierung  hätte schießlich auch schon einmal durch hoheitlichen Akt die Grenze der zum Vereinigten Königreich gehörigen Hoheitsgewässer ausgeweitet und damit die Sendungen des Piratensenders Radio Estuary in den juristischen Bereich krimineller Handlungen inkorporiert. Na dann! Dann darf die britische Regierung natürlich auch das Arbeits- und Aufenthaltsgrundrecht britischer Bürger in anderen EU-Ländern durch einfaches Schreiben an die Adresse der EU-Kommission eben mal beenden. Jedenfalls, wenn die Mehrheit der anderen Briten das so will.