Abgerissene Eintrittskarte Neuköllner Oper

Ratlos vor der Maus

Kultur in Neukölln ist meist ein Vergnügen. Jedenfalls gilt das für den „Heimathafen“ an der Karl-Marx-Straße oder auch für die Neuköllner Oper fast nebenan. Mein Google-Kalender listet für die letzten zehn Jahre ein gutes Dutzend Veranstaltungen auf, die wir in einem der beiden Häuser besucht haben. Zudem erinnere ich mich an mehrere dortige Veranstaltungen, die der Kalender gar nicht zeigt. Ich führe ihn offenbar nicht sorgfältig genug.

In der Neuköllner Oper war gestern Abend Premiere der 140 Jahre alten Johann-Strauss-Operette „Die Fledermaus“.

Die hatten wir zuletzt 2008 in Berlins Komischer Oper gesehen. Musikalisch war sie damals nach meiner Erinnerung  vom Feinsten. Im Ablauf blieb sie eng an der Vorlage. Sie war aber vor allem auch schauspielerisch wunderbar.

Zum Beispiel, wie der Ehemann, die Ehefrau und das Kammermädchen jeweils getrennte erotische Abenteuer suchten, sich wechselseitig Abschiedskummer vortäuschten und deshalb sangen „oh je, oh je, wie rührt mich dies, oh je, wie rührt mich dies“. Weil Johann Strauss diese Leidens-Heuchelei in fröhlichstem Walzerrhythmus vertont hatte, beanspruchten die Sänger das Zwerchfell der Zuschauer fast genauso wie ihr Gehör. Kann man natürlich spießig finden. Sprachlich und formal hausbacken und überholt. Viel zu wenig explizit.

Das war offensichtlich auch Ausgangspunkt der Bühnenfassung von Julia Lwowski (Regie), Yassu Yabara (Bühnenbild und Kostüme) und Tobias Schwencke (Musik), die gestern Premiere hatte. Die junge, aber schon erfahrene Regisseurin Lwowski studiert ihr Fach weiterhin hier in Berlin an der Hochschule für Musik Hans Eisler. Das Ensemble bestand aus Altersgenossinnen und -genossen.

Die Neubearbeitung hat die – aus der Sicht von 1874 Ironie-triefende – Operette in ein erbarmungslos modernes und vor allem sextriefendes Stück verwandelt, mit viel simuliertem Geschlechtsverkehr, aber – trotz einiger per Video verzerrt eingeblendeter Erektionen und Blow Jobs – ohne wirkliche Provokationen. Weitgehend ironiefrei und nur bedingt nicht jugendfrei. Sex ohne Witz ist banal.

Natürlich fußt diese Humorkritik auf dem, was ich persönlich unter Ironie verstehe. Das ist nicht auf jeden anderen übertragbar. Wer es bereits als witzig empfindet, wenn ein zur Festnahme Beauftragter dem Festzunehmenden beim Akt zuschaut und dann selbst ein bisschen einbezogen wird, der konnte der Aufführung gestern gewiss mit Lust folgen.

Beachtlich war immerhin, wie gut die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler sangen und spielten. Sehr gut gefiel mir auch die Band mit der Pianistin Nadeschda Tseluykina und dem Trio Laccasax (Akkordeon, Bass, Saxofon und Klarinette), zudem mit elektronischem Keybord und Schlagzeug, die das Orchester ersetzten. Bühnenbild und Bewegungsabläufe waren ebenfalls einfallsreich. Sie verlangten vom Zuschauer übrigens sehr oft, den Hals kräftig zu drehen.

Nur: Hätte ich die Fledermaus nicht gekannt, ich hätte kaum mitgekriegt, worum es überhaupt ging. Den roten Faden hätte ich allein schon deshalb nicht verlieren können, weil es schwer fiel, ihn überhaupt aufzunehmen. Als sich die Hauptdarstellerin einmal in der Zuschauerreihe direkt neben uns niederlies, um dem sich nähernden Hauptdarsteller ein Beweisstück für Untreue abzuluchsen, raunte ich meiner Frau zu, dass es sich um ein Ehepaar handelt, dessen gegenseitiges Inkognito die Frau durchschaut hätte, der Mann nicht. Meine Frau sagte: „Ach so“.

Denn diese Inszenierung hatte vor lauter expliziter Einzelszenen ihre Hauptaufgabe aus dem Blick verloren: eine Geschichte zu erzählen, die der Zuschauer versteht. Da fehlte der Regie jede Transparenz. Was auch dazu beitrug, dass das Publikum keinmal so richtig unisono über eine Wende des Geschehens loslachen konnte. So fand auch das „oh je, oh je, wie rührt mich dies” bei den Zuschauern nur zaghafter Zuspruch. Unter solchen Unständen ist dann sogar der aufreizende Gang leicht bekleideter, aber absolut tonfester Sängerinnen nur für sich vergnüglich, nicht als Teil des Ganzen.

Meine Frau und ich bedauerten trotzdem nicht, uns diese Maus mal angeschaut zu haben. Mit Innovationen gehen die Theater- und Opernmacher immer ins Risiko. Das sollen sie auch. Wer Neues wagt, haut immer auch mal kräftig daneben und soll doch den Mut nicht verlieren.

Um gerecht zu sein: Möglicherweise hat mein laienhaftes Wahrnehmungsvermögen auch Entscheidendes verpasst. Zudem hätte ich manche der dargebotenen sexuellen Konstellationen und Konfliktlagen in der Nachpubertät möglicherwese etwas erregter als heute aufgenommen, vielleicht sogar aus sich heraus als witzig. Kann ja sein. Jedenfalls klatschten die Zuschauer hinterher brav Beifall. Aber ich war ratlos und verkniff mir ein „Buh“.