Sadko

Eigentlich unglaublich. Aber ich bin tatsächlich zum ersten Mal in Sankt Petersburg. Gestern hatte meine Frau Geburtstag. Wir gingen mit einer Freundin in das prächtige Mariinski-Theater und sahen die knapp 120 Jahre alte Oper Sadko (russisch mit englischem Übersetzungsband), komponiert und teils auch getextet von Nikolai Rimski-Korsakow. Vier Stunden, zwei Pausen, sieben Bilder auf der Basis einer alten russischen Volkserzählung um den reichen Kaufmann und Abenteurer Sadko aus Neustadt (Nowgorod) am Ilmensee.

Es gibt in Russland zwei große Nowgorods, so wie es bei uns diverse Neustadts gibt. In Sadko geht es um das ältere zweihundert Kilometer südlich von Sankt Petersburg gelegene Veliki Nowgorod. Nicht um die viel größere östlich von Moskau gelegene und ebenfalls sehr alte Wolgastadt Nischni Nowgorod.

In der Erzählung ist Sadko zugleich auch Sänger, Zitter-(‚Gusli‘)-Spieler und Seefahrer, der sein Vermögen dem trügerischen Bündnis mit einem Wasserherrscher unter dem Ilmensee verdankt. In der Oper erzählt Rimski-Korsakow in freier Interpretation der Erzählung, warum der Fluss Walchow die Stadt Nowgorod und den Ilmensee mit den Weltmeeren verbindet: Es ist die Macht der Liebe und der Lieder.

Wäre ich ein Feuilleton-Journalist, könnte ich mich nun vielleicht sachkundig dazu äußern, wie wunderbar Oleg Videman den Sadko gesungen hat, wie hervorragend Mikhail Sinkevich das Orchester dirigierte und wie sehr zu merken war, dass diese Produktion bereits am 5. März 1993 kurz nach der politischen Wende ihre Premiere hatte, als die Spielstätte noch Kirow-Theater und die Stadt noch Leningrad hieß. Und dass die opulente und plüschige Ausstattung dem Original der Aufführung von 1920 am selben Ort (von Konstantin Korovin) glich – 19 Jahre nach der Uraufführung 2001. Aber ich bin Laie.

Viele Melodien waren mir bekannt. Am meisten erstaunte mich die Musik zu dem langen Unterwasser-Ballett im Ilmensee: Ich kenne sie gut. Aber ich weiß nicht, woher. Ich war aber sofort sicher, ihr auch früher schon als Unterwasser-Musik begegnet zu sein. Meine Vermutung: Sie wird wohl häufig zum Unterlegen von Naturfilmen mit Fischen oder Tauchern ausgewählt.

Und dann gibt es da noch das grandiose „Hindulied“ oder „Lied vom indischen Gast“. Es gehörte zu meinem Kindheits-Köpfhörer-Repertoire aus Liedern und Melodien, die ich stundenlang summte. Meist, wie hier, ohne zu ahnen, was es ist. Es gibt das Lied auch unter Youtube, sogar in deutscher Fassung. Hier wegen des Urheberrechts kein Link, aber eine Adresse: www.youtube.com/watch?v=eVJP7raEPUc)

Auch bemerkenswert: die Preise. Alles ist hier im Vergleich zum Euroraum zurzeit sehr billig, auch erstklassige Opernkarten.

Sankt Petersburg ist ausgesprochen angenehm. Die Autos fahren rücksichtsvoll. Die Menschen sind hilfsbereit und freundlich. Es gibt fast keine aufdringliche Neonreklame. Was der kurze Besuch uns nicht erlaubt: hinter die sozialen Kulissen zu schauen und mit Menschen über Gesellschaft und Politik zu sprechen. Nächstes Mal.

Nachtrag:

Zwei Tage nach unserer Abreise wird in Sichtweite des Kreml in Moskau der Oppositionspolitiker Boris Nemzow ermordet. Am Folgetag (Sonntag) demonstrieren nicht nur dort, sondern auch in Sankt Petersburg viele Menschen. Es ist ein merkwürdiges Gefühl persönlicher Betroffenheit, das uns beim Anschauen der Fernsehnachrichten beschleicht. Unwillkürlich denken wir zurück an die gar nicht so wenigen Leute, mit denen wir während unserer acht Tage in der Stadt Berührung hatten und fragen uns, wer von ihnen sich wohl an der Demonstration in Petersburg beteiligt haben mag. Wir wissen keine Antwort. Wir waren ihnen nicht nahe genug gekommen.