Hundert Meter vom Südufer der Themse entfernt befindet sich unter dem Schienenviadukt, das den nahen Waterloo Bahnhof mit dem Charing Cross Bahnhof auf der anderen Themse-Seite verbindet, ein Restaurant mit Weinbar und Jazzclub namens „The Archduke“.
Vor anderthalb Wochen trank ich dort mittags einen Kaffee, um mir das Etablissement und seine Umgebung näher anzuschauen. Ich wollte hier abends essen.
Bevor die Gegend in den 70-er Jahren den Property Developern in die Hände fiel, gehörte das Gelände zum Territorium der cockney-sprachigen Urlondoner. Als ein echter „Cockney“ galten früher nur Städter, die in Hörweite des Glockenwerks der City-Kirche „St Mary le Bow“ zur Welt gekommen waren. Das wissen wir von unserem leider vor fast drei Jahren verstorbener Freund Charles, auf den dieses Kriterium voll zutraf. Er war 1951 im St Thomas-Krankenhaus geboren, direkt an der Themse, wenige hundert Meter von hier entfernt.
Als Jugendlicher war er dann mit seiner deutschen Mutter nach Deutschland gezogen. Seine Frau Ute, unsere Berliner Freundin die uns auch auf dieser Reise begleitete, hatte drei Jahrzehnte mit ihm zusammengelebt.
Charles hatte stets ein Bein in London behalten, wo sein inzwischen längst verstorbener englischer Vater geblieben war. So war Charles‘ Englisch perfekt wie sein Deutsch. Er liebte die Ausdrucksweise der Cockneys. Er genoss es vor allem, wenn er Cockney sprechende Handwerker im Hause hatte. Von Charles war in diesen Tagen viel die Rede. Ob er dieses Restaurant und seinen Namen kannte, wissen wir nicht. Aber ein früherer Londoner Nachbar von Charles hatte Ute den „Archduke“ als Lokal für diesen Abend empfohlen und uns einen Tisch mit fünf Plätzen reserviert.
„Archduke“ ist im Englischen ein Adelstitel. Duke heißt übersetzt Herzog, und wie das englische Archangel für Erzengel steht, steht Archduke für Erzherzog. Mit der Besonderheit, dass nie ein angelsächsischer Adliger diesen Titel geführt hat. „Erzherzöge“ mit diesem Titel gab es historisch nur in Österreich, und zwar bei Angehörigen des Hauses Habsburg.
Dieser Name in direkter baulicher Nähe zur Waterloo Station hat dann ja wohl mit der militärischen Rolle der Habsburger in den Kriegen gegen Napoleon zu tun, dachte ich mir und schaute, wie ich es bei solchen Gelegenheitern immer tue, in Wikipedia nach, in diesem Fall in der englischen Ausgabe. Dort stieß ich auf „Archduke Charles“ (1771 – 1847). Seine Bedeutung als einer der von dem Franzosen am meisten gefürchteten Heerführter lobt die englische Wikipedia – im Gegensatz zur deutschen unter „Erzherzog Karl“ – in den höchsten Tönen. Dieser österreichische Prinz nahm zwar nicht an der späteren Schlacht von Waterloo teil. Aber er war immerhin der erste, der Napoleon je bei einer Schlacht besiegte – der Schlacht von Aspern nahe Wien (1809). Karl nahm dem Empereur so den Nimbus der Unbesiegbarkeit. Er muss gemeint sein, dachte ich mir.
Der Abend im Archduke verlief dann sehr schön. Die Stimmung war gelöst. Das Essen war gut zubereitet und schmeckte. Der rote Sangiovese war bestens und nicht einmal überteuert. Die Züge auf den Schienen über unseren Köpfen störten kaum.
Auch die Musik, die anfänglich von einem Solisten, später von einem Trio kam, übertönte unsere Gespräche nicht. Mit meiner Kusine Marlies aus Harlow in Essex erinnerte ich mich vergnügt an meinen eintägigen Besuch in ihrem Haus in der Zeit, als wir alle etwas jünger waren und ich Schüler. Damals schickte – ungelogen – Schottland Yard einen Boten zu Marlies‘ Haus, damit ich mich schnellstens zur Cannon Row Police Station begäbe, um einen Kleindieb zu identifizieren. Wir staunten, wie es der Londoner Polizei in Windeseile gelungen war, den Kleindieb und meinen Standort ausfindig zu machen.
Mit meinem Freund und Vetter Norbert brauche im mich immer nur in Andeutungen zu unterhalten. Wir haben viel zusammen erlebt. Er war in die FDP eingetreten und Jungdemokrat, schon bevor ich in die SPD eintrat und Juso wurde. Er hatte zum Abschluss seines Zeitungsvolontariats bei der Hessischen Allgemeinen in Kassel 1969 einen der berühmten, seltenen Original-Samba-VW-Busse gebraucht gekauft und ein Klappsofa unter das große Schiebedach gestellt.
Sein Chef Paul Dierichs, Verleger und Chefredakteur in einem, wollte den Jungredakteur dann sofort zum Verantwortlichen für die Regionalausgabe Melsungen und Nachbarorte machen, aber Norbert verlangte zunächst einmal zusätzlich zu seinem Jahresurlaub einen Monat unbezahlte freie Zeit. Als Dierichs einwilligte, unterschrieb er und übte den Beruf dort dann auch eine Reihe von Jahren aus. Bis er sich – aus meiner Sicht: leider – von der niedersächsischen FDP als Sprecher der Partei und der Landtagsfraktion abwerben ließ.
Damals aber hatte Norbert erst einmal Zeit gewonnen. Und ich hatte Semesterferien und als Stipendiat und Taxifahrer auch ein paar D-Mark angesammelt. Noch im Rückblick und mit viel Abstand ist für mich fast unvorstellbar, was wir zwei dann in den folgenden acht Wochen mit Norberts rot-weißen Super-Bus erlebten.
Zunächst durchquerten wir Jugoslawien, dann Bulgarien. Als wir in der Türkei Zwischenstopp machten, puschte auf der anderen Seite des Mittelmeers gerade Gaddafi. Weiter ging es nach Latakia in Syrien, dann ins wahrhaft schöne, damals noch unversehrte libanesische Beirut, wo wir ein bisschen länger blieben. Wir fuhren auf Routen, die gefährlich waren, aber heute als selbstmörderisch gelten würden. Durch die Bekaa-Ebene zwischen dem Libanon- und dem Anti-Libanongebirge gelangten wir zu den unvorstellbar großen Ruinen von Baalbek und zur spektakulären Höhenburg der Kreuzritter, dem Krak des Chevalliers – laut Lawrence von Arabien eine der schönsten Burgen der Welt, ein Weltkulturerbe, das vor zwei Jahren schwerste Zerstörungen erlitt.
Wir fuhren nach Damaskus, in die jordanische Wüste und in die jordanische Hauptstadt, kehrten nach Beirut zurück und bestiegen eine Fähre. Sie brachte uns – der Bus vorne auf Deck verzurrt mit cabriomäßiger Aussicht – über Famagusta auf Zypern nach Alexandria. In Gizeh übernachteten wir am Fuß der Cheops-Pyramide. Von Kairo aus fuhren wir dann, erneut über Alexandria, entlang der Küste in Richtung Lybien. Zweimal überquerten wir auf dieser Sahara-Strecke die Schlacht- und Gräberfelderfelder von el-Alamein, zweimal wurden wir in Marsa Matru auf der letzten Wüsten-Kreuzung vor Lybien wieder zurück geschickt und mussten wieder über diese trostlosen Sandfelder.
Wochen zuvor hatten wir uns auf der Hauptpost der jordanischen Hauptstadt Amman unsere postlagernden Briefwahlunterlagen abgeholt, und in der deutschen Botschaft waren wir gemeinsam unserer Wähler-Pflicht nachgekommen.
Wir handelten dort unsere gemeinsame „kleine Koalition“ aus. Norbert wählte mit der Erststimme SPD, ich mit meiner Zweitstimme FDP. Und das tat weh, denn Norbert hatte damit ja klar den besseren Deal gemacht. Rechtzeitig zum Abend des 28. September 1969 kehrten wir nach Beirut zurück, um unsere beiden neuen einheimischen Freundinnen Afaf und Nouha wiederzusehen und um am Strand des besonders schönen Stadtteils Raouché die Hörfunk-Nachrichten zu verfolgen.
In Erwartung der erstmaligen Bildung einer kleinen Koalition in Bonn öffneten wir unser über tausende Kilometer mitgeschlepptes Fässchen Bier. Es war schal, und auch aus dem Radio drangen während des ganzen Abends nur deprimierende Meldungen. Neben unserem Samba-Bus versammelten sich Einheimische, um mitzutrinken. Wir verließen den Strand und fuhren in irgendeinen verlassenen Stadtteil, um mit unserem Frust alleine zu sein. Tief in der Nacht drehte Norbert noch mal am Radio rum – und wir hörten auf Mittelwelle im Saarländischen Rundfunk den SPD-Vorsitzenden Willy Brandt, der ankündigte, mit dem FDP-Vorsitzenden Walter Scheel über die Bildung einer Kleinen Koalition zu sprechen. Wir waren elektrisiert und euphorisiert, fuhren an den inzwischen menschenleeren Strand von Raouché zurück, und der Rest unseres schalen Biers schmeckte berauschend.
Diese Reise, auch im Rückblick nach Jahrzehnten: der Wahnsinn!!
Im Archduke hörte sich meine Frau Daisy die alten Geschichten zum hundertsten Mal geduldig an. Ich hatte schließlich gerade Geburtstag. Irgendwann machte sich Marlies mit Norbert – der sich für ein paar Tage bei ihr einquartiert hatte – auf den langen Rückweg nach Harlow. Ute und ich tranken draußen noch ein Bier, auch Daisy nippte ein bisschen, und wir kehrten todmüde – aber, wie es sich in London gehört, per Doppeldeckerbus – in unser Hotel zurück.
Am nächsten Tag surfte ich noch einmal durch Wikipedia und schaute unter Archduke und Erzherzog nach. Ich weiß, das interessiert nicht jeden. Mich fesselt es. Ich lernte bzw. frischte auf: Das griechisch-lateinische Kunstwort „Archidux“ war eine vorbildlose Erfindung und nur durch eine perfide Urkundenfälschung des österreichischen Herzogs Rudolf IV (1339 – 1365) in den Jahren 1358 oder -59 in die Welt gekommen.
Rudolf ließ den Titel in ein zugunsten seiner Dynastie, der Habsburger, gefälschtes Urkundenbündel (das so genannte „Privilegium maior“) einsetzen. Um der Fälschung Gewicht zu verleihen, ließ er sie mit den gefälschten Unterschriften Friedrichs I (Barbarossa) und sogar Julius Caesars versehen und mit dem aufgebrochenen Siegel eines Originaldokuments Barbarossas – des „Privilegum minor“ – wieder verschließen. Der Zweck: Kaiser Karl IV, Rudolfs Schwiegervater, hatte ihn in seiner so genannten „Goldenen Bulle“ nicht zu einem der damals sieben Kurfürsten gemacht, die das Recht erhielten, den jeweils neuen deutschen König und damit Kaiseraspiranten zu küren. Diesen Kurfürsten wollte Rudolf zumindest ehrenmäßg gleichgestellt sein.
Ein Jahrhundert später erklärte der habsburgische Kaiser Friedrich III das Dokument und damit auch seine eigene hochstaplerische Erzherzogs-„Würde“ kraft seines Amtes für rechtsgültig. Der Titel verlor seine Existenz erst 1919 wieder, aufgrund des österreichischen Adelsaufhebungsgesetzes. In der Zwischenzeit hatten alle habsburgischen Kaiser, Prinzen und Prinzessinnen das pompöse Etikett als Bestandteil ihres Namens geführt.
Der heute bekannteste Titelträger war Erzherzog Franz Ferdinand (1863 – 1914), einer der schießwütigsten Groß- und Kleinstwildjäger der Geschichte. Seine Strecke soll 274.889 Stück Wild betragen haben, vom Elefanten bis zur Lachmöve. Er starb unmittelbar vor Ausbruch des 1. Weltkriegs. Ob er, wenn er länger gelebt hätte, ebenfalls zu den kanonenversessenen Heerführern dieses Krieges gehört hätte, ist eine unzulässige Spekulationen. Er fiel bekanntlich vor 102 Jahren dem Attentat von Sarajewo zum Opfer, das diesen Krieg überhaupt erst einleitete und zum Ende aller deutschsprachigen Monarchien führte.
Tja, und was hat das nun mit meiner Geburtstagskneipe zu tun?
Die Erleuchtung kam mir, als ich in Wikipedia noch ein bisschen unter dem Stichwort „Cockney“ stöberte und auf die Ostlondoner Tradition des „Rhyming slang“ stieß, eine besondere Form des Puns, des britischen Wortspiels, das auf
nur Insidern erkennbaren Wortverwechslungen beruht. Der Name des Lokals hat nämlich überhaupt nichts mit Adleshäusern zu tun. Schließlich ist „Arch“ auch das englische Wort für ein Gewölbe oder meinetwegen auch einen Flitzebogen. Wir hatten ja unter den gemauerten Bögen des Viadukts gesessen. Das Wortspiel hatte ich nicht erkannt. Was den Duke anbelangt, da kam ich nicht viel weiter. Allerdings stieß ich auf Daisy Dukes. Das ist eine englische Gattungsbezeichnung für aus Jeans geschnittene extrem kurze Hot Pants. Wie sie als junges Mädchen auch meine Daisy gerne trug. Aber leider kannte ich sie da noch nicht.
Danke mein lieber und jüngster Cousin, für diese lange Abhandlung und Erklärung für einiges doch sehr Interessantes!
Wir alle Fünf erscheinen sogar fast ‚in person‘, zumindest auf den netten Bildern. Es waren wirklich fröhliche Stunden miteinander, die unvergeßlich bleiben werden. Ein Abend und fast ein ganzer Tag, den man nicht missen mag! Und sogar eine Stunde mit Sommertemperaturen auf der Themse, das war unwahrscheinlich!!
Hoffentlich schaffen wir ein ‚ENCORE‘ in Berlin.