EU-Parlament hinten rechts

Abschied

31. Januar 2020. Dass ich mich ausgerechnet am heutigen Freitag in einem Autobus auf dem Rückweg von Brüssel nach Berlin befinde, wird mir in Erinnerung bleiben. Es ist für lange oder für immer der letzte Tag, an dem das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland Mitglied der Europäischen Union ist. Während ich nach Osten fahre, das Tablet zum Schreiben auf meinen Knien, bewegen sich britische EU-Parlamentarier und ihre Mitarbeiter jetzt westwärts. Wenn sie nicht schon nach der letzten Plenarsitzung gefahren sind, vorgestern oder gestern. Normale britische Beschäftigte der Europäischen Union begehen heute ihren Abschiedstag. Ab Mitternacht ist GB kein Autokennzeichen innerhalb der EU mehr.

Ein Tag fürs Geschichtsbuch

Ich verbrachte die letzten zwei Tage in der Hauptstadt Europas und hörte mir im Parlament mehrere Reden an, darunter die an die Briten gerichtete Abschiedsansprache Ursula von der Leyens, aber auch die gegen die EU gerichteten hämischen Worte des englischen Brexitbetreibers Nigel Farage.

Der Brexit tut mir persönlich weh. Schmerzzentrum ist ein kultureller Nerv. Uns verlässt das Land Isaac Newtons, das Entstehungsland von Parlament und Gewaltenteilung, das Land der Beatles, das Heimatland der Weltsprache Englisch, das Land, dessen Widerstandkraft gerade wir Deutschen wesentlich zu verdanken haben, dass Hitlers Weltmachtpläne früh scheiterten und wir schließlich die Befreiung erlebten.

Skulptur "Europa" von May Claerhout

Falsche Erwartung?

Die Skultpur „Europa“ der Bildhauerin May Claerhout steht als Geschenk Belgiens anlässlich seiner Ratspräsidentschaft 1993 vor dem Eingang zum Europäischen Parlament. Drei Jahre nach Vollendung des Skulptur fiel die Entscheidung, die künftige europäische Währung Euro zu nennen und als € zu kennzeichnen. Das konnte May Claerhout noch nicht wissen. Für sie symbolisierte der griechische Buchstabe Epsilon nur ein geeinigtes Europa.

Wer nicht genauer hinschaut, meint deshalb leicht, vor dem Europaparlament stünde ein Denkmal, das die gemeinsame Währung feiert.

Auch meine persönliche kind- und jugendliche religiöse Prägung beruhte auf einer im Vereinigten Königreich entstandenen Spielart des Protestantismus; meine Eltern waren Methodisten. Als ich kein Christ mehr war und zu studieren begann, prägte Karl Marx mich mit seiner vorrangig in London geschriebenen Analyse des vorrangig britischen Kapitalismus, in der er sich vorrangig mit schottischen und englischen Wirtschaftswissenschaftlern auseinander setzte. Lange befasste ich mich anschließend mit der „General Theory of Employment, Interest, and Money“, dem ökonomischen Schlüsselwerk des Engländers John Milton Keynes. Britische Geschichte ist Teil meiner persönlichen Biografie.

Ich will nicht ins Schwärmen verfallen. Während der Engländer John Locke als Erster überhaupt das Recht des Einzelnen über das Recht des Staates stellte, während er den Menschen sogar ein Widerstandsrecht gegen eine untreue Obrigkeit zuerkannte, während er es war, der die Idee der Gewaltenteilung in die Welt setzte, eroberten die englischen Könige und Königinnen die Weltmeere und nahmen sich das Recht, mit militärischer Macht das größte Kolonialreich der Geschichte zu errichten.

Zu ihren ersten mit Gewalt eroberten Kolonien gehörte schon ab dem 16. Jahrhundert Irland. Und noch nach dem 1. Weltkrieg gehörte mehr als ein Fünftel der Erdbevölkerung und mehr als ein Viertel der Landmasse zum britischen Empire. Ihre eine Generation nach John Lockes Tod erstmals 1740 aufgeführte inoffizielle Nationalhymne „Britannia rule the waves“ enthält im Refrain einen Satz, der keineswegs freiheitlich gemeint war: „Britons never will be slaves“. Andere durften unterdrückt werden.

Die industrielle Revolution hatte England und Schottland Reichtum und unermessliches Elend brachten. Dann zerfielen die Kolonien, dann zu weiten Teilen die Industrie. Dann kam der Brexit-Spleen. Ich gehöre zu denen, die annehmen, dass die Briten mit ihm einen selbstzerstörerischen Kurs fortsetzen. Er wird ihnen wohl bald Leid tun. Und doch: Das ist nur eine, wenn auch sehr starke, Vermutung. Ich kann mich irren.

John Locke Gemälde

John Lockes (1632 – 1704) Portrait von Godfrey Kneller hängt in der Ermitage in Sankt Petersburg. Lockes Ideen bereiteten die französische Revolution ebenso vor wie die Revolution, die zur Gründung der USA führte. Locke hatte puritanische Eltern. Er kannte demokratische Verhältnisse aus den dort gelebten freiheitlichen Kirchenstrukturen. Obwohl er die Bibel buchstabengetreu für wahr hielt, vertrat er das Rechts jedes Einzelnen, über sein Denken, seinen Glauben, sein Handeln selbst zu bestimmen. Deshalb war er ein entschiedener Gegner aller Versuche, den Katholizismus und mit ihm die Inquisition wieder in England einzuführen. Die Iren begriffen den evangelischen Glauben dagegen schon damals als die Konfession ihrer Unterdrücker.

Deshalb bin ich mir auch nicht wirklich sicher, wie ich den heutigen letzten Tag der britischen EU-Mitgliedschaft einschätzen soll. Markiert er womöglich doch den Beginn eines Domino-Effekts von Austritten, eines Zerbröselns des Vereinten Europas? Erleben wir also gerade einen Tag von einschneidender Bedeutung? Oder einen fast belanglosen Abschieds-Freitag? Heute kann das niemand ermessen, auch wenn der Tag fraglos historisch ist.

Im Normalfall sind einschneidende Ereignisse als solche sofort zu erkennen und bleiben als Erlebnis lebendig. Ich weiß noch genau, wo ich mich als Gymnasiast am Abend des 22. November 1963 befand. Ich riss in den Gemeinderäumen meines Vaters in Oldenburg, Ofener Straße 1, die Tür auf, hinter der der Posaunenchor probte. Ich schrie aufgeregt hinein: „Kennedy ist ermordet worden!“

Ich erinnere mich auch genau an den Dienstagnachmittag im Jahr 2001, an dem ich an meinem Schreibisch im zweiten Stock des Hauses der Bundespressekonferenz saß und Parlamentsfernsehen schaute. Die Plenardebatte im Reichtagsgebäude, einen Steinwurf entfernt auf der anderen Spreeseite, leitete Bundestagsvizepräsidentin Anke Fuchs. Plötzlich und ohne Vorankündigung brach sie die Debatte vorzeitig und für den Rest des Tages ab. Es gäbe beunruhigende Vorgänge in den USA.

Ich schaltete um auf CNN. Nicht alle Büros verfügten über eigene Fernsehanschlüsse. Vorübergehnd füllte sich mein Büro mit Kolleginnen und Kollegen, die gemeinsam mit mir sprachlos zuschauten, wie sich ein zweites Flugzeug in den noch nicht brennenden Südturm des World Trade Center bohrte und sein Flammeninferno entfachte. Wie die Türme dann zusammenbrachen. Die meisten anderen Journalisten eilten schnell zu ihren eigenen Schreibtischen zurück.

Die historische Dimension solcher überraschenden Ereignisse lag sofort offen zutage. Welche Sprengkraft dem heutigen britischen Rückzug auf die Insel innewohnt, ist nicht abzusehen. Vielleicht keine. Dann steht später lakonisch in den Gechichtsbüchern: „Britische EU-Mitgliedschaft vom 1. Januar 1973 bis zum 31. Januar 2020.“

Sollte das Inselreich aber wider Erwarten plötzlich aufblühen, gar die anderen EU-Länder wirtschaftlich überholen, würde das nicht nur an den Grundfesten meiner eigenen Überzeugungen rütteln. Dann würde der heutige Tag zur Vorgeschichte für viel einschneidendere andere Geschehnisse gehören.

Die Furcht vor einem solchen Effekt wird den Verhandlungsführern der EU vor Augen stehen. Sie werden dem Vereinigten Königreich keinen Zugang zum Europäischen Markt einräumen, der die Insel wirtschaftlich bevorzugt.

Die Brüsseler haben ihr wasserlassenden Männlein anlässlich des Brexit mit einem Union Jack bekleidet.

Woher sollte ein solcher Effekt kommen? Die Geschichte der EU liefert eine Fülle von Überraschungen, von Ereignissen, die zunächst niemand für möglich gehalten hatte. Die Gründerväter waren sich zum Beispiel vollständig sicher, dass der Europäische Gerichtshof in Luxemburg nicht die geringsten Befugnisse in Bezug auf die nationalen Steuergesetze besitzen würde. Aus heutiger Sicht war das eine Lachnummer. Auch als die bitter arme Republik Irland der damaligen EWG am 1. Januar 1973 beitrat – am selben Tag wie das Vereinigte Königrich – hatte niemand die künftigen Steuertricks Irlands auf dem Bildschirm.

Doch rund ein Jahrzehnt später begann Irland, das Steueraufkommen seiner Förderer nachhaltig zu untergraben, indem es internationalen Konzernen eine Niederlassung zu verschwindend geringen Steuertarifen anbot. Konzerne wie Apple, Microsoft, Starbucks und die Mehrzahl der Pharmamultis dieser Erde griffen zu. Die Steuerverluste der größeren Industrieländer überstiegen die so erzeugten Steuereinnahmen von Irland um das zig-fache. Die Brüsseler Kommission hatte solche Risiken zuvor nicht für möglich gehalten.

Ich habe diese Vorgänge damals verfolgt und über sie geschrieben. Deshalb fürchte ich, dass die Ende vergangenen Jahres mit heißer Nadel gestrickten, bereits verbindlichen Abmachungen zur Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland ein Fehler waren und auf dem Festland Schäden anrichten werden. Das Spielfeld der Konzernjuristen wird nach meinem Gefühl – Einschätzung wäre ein zu großes Wort – die Umwandlung von materiellen in immaterielle Wirtschaftsgüter und dessen Gegenteil sein, um die Zollbestimmungen der EU und die Einfuhrumsatzsteuer zu umgehen. Oder, einfacher ausgedrückt, um Tabletten oder Software zu schmuggeln. In wieweit Großbritanniens Realwirtschaft davon profitieren wird, ist eine andere Frage.

Zum Ende der britischen Mitgliedschaft wurden vorgestern im Brüsseler Plenarsaal große Symbole beschworen, bis hin zum gemeinsam gesungenen „Auld Lang Syne“. Das Ende selbst vollzieht sich heute unspektakulär. Ist der Vergleich zum 22. November 1963 oder dem 11. September 2001 also total überzogen? Man wird sehen.

Begeht die Kommission in den kommenden Verhandlungs-Monaten (weitere?) Fehler, stellt sich das erst viel später heraus. Schlägt Premierminister Boris Johnson zum Ende des Jahres einen Triumphton an, besagt auch das wenig. Außer, dass Johnson ein starkes Motiv hat, den zentrifugalen Kräften innerhalb der EU Auftrieb zu geben.

Ein durchsichtiger Wunsch

Vorgestern erhielt ich einen Vorgeschmack. Im Parlament sah und hörte ich von der Tribüne aus, wie sich der hämisch jubilierende Nigel Farage mit dem Wunsch vom Plenum verabschiedete, dass viele, viele Mitgliedsländer sich dem britischen Abschiedsweg anschlössen.

Farages Wunsch war – ganz und gar durchsichtig – der Vater eines hoffentlich unrealistischen Gedankenspiels. Wenn es sich verwirklichte, hätte das Königsreich eine Verhandlungsmacht als Gleicher unter vielen vereinzelten Gleichen. Darin liegt die Hoffnung der Brexisten. Aber Farages Appell verrät, welche Zweifel tief in seinem Inneren nagen müssen, dass dieses Szenario tatsächlich eintritt.

Denn jetzt verhandelt sein Land als ein einzelner vergleichsweise Kleiner vorrangig mit einem einzigen ganz Großen. Den EU-Bürgern kann das Zuversicht geben, den Briten nicht.

Aber, wie gesagt: Alles könnte auch ganz anders kommen. Boris Johnson ist ein Spieler und wird nach Handlungsoptionen suchen, die wir bislang nicht kennen.

Spieler sind keine Zauberer, auch wenn sie das gerne vortäuschen. Ich glaube nicht ernsthaft, dass Johnsons Optionen von einer Qualität sein könnten, die die Insel zum klaren Brexitgewinner und die EU zum Brexitverlierer macht. Johnson wird seinem Land sicherlich ein Niedrigsteuer-Regime nach irischem Vorbild verpassen. Das ist das abgeschmackteste, aber auch prognostizierbarste aller konservativen Zauberstücke. Er wird damit unter anderem versuchen, der (auch für uns ärgerlichen) Steueroase Nordirland viele internationale Konzerne abspenstig zu machen. Aber die haben sich in den letzten Jahrzehnten dort ein bequemes Kuckucksnest einrichten können. Und Dublin befindet sich auf dem Territorium der EU. London ab morgen nicht mehr.

Meinen Trennungsschmerz spüre ich trotzdem. In diesen Stunden vielleicht intensiver als andere, weil ich auf dem Heimweg von Brüssel nach Berlin bin. Nur wenige andere gehen momentan einer Beschäftigung nach, die für sie den denselben Symbolwert hat, wie meine Reiseroute heute für mich.

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