Am 20. Januar erhielt ich aus dem Büro der Berliner Europaabgeordneten Gabriele Bischoff (SPD) eine E-Mail: Es gebe noch wenige freie Plätze für eine in den letzten Januartagen stattfindende, vom EU-Parlament bezuschusste, Fahrt nach Brüssel. Es bestünde Gelegenheit, im Europäischen Parlament „live aktuelle Debatten zu verfolgen“. Ausgerechnet die letzten Januartage? Das beinhaltete die Chance, Augen- und Ohrenzeuge des parlamentarischen Brexit-Showdowns zu werden.
Ich meldete mich an. Während ich im Laufe der Jahre viele Bundestagsdebatten von der Pressetribüne des Reichstagsgebäudes aus verfolgt habe, konnte ich bislang noch kein Rededuell im Brüsseler Paul-Henri-Spaak-Gebäude verfolgen. Das musste jetzt einfach sein.
So erlebte ich von der Besuchertribüne aus den Höhepunkt der Abschiedsdebatte gemeinsam mit den rund fünfzig Berlinern meiner Reisegruppe. Dass wir die klaren Aussagen der neuen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und später die entlarvenden Tiraden des faktischen Chefs der UK Independence Party, Nigel Farage mitbekamen, war allerdings auch schieres Glück. Das extrem enge Zeitfenster von 45 Minuten, zu dem die Berliner Gruppe ihre Plätze auf der Besuchertribüne einnehmen konnte, lag einfach extrem günstig.
Anders als im Bundestag bleiben die Redner im EU-Parlament auch während längerer Beiträge vor ihrem eigenen Sitzplatz stehen. Was mir vorher nicht so klar war: Da viele ihre Beiträge auf englisch halten, versteht ein großer Teil der Abgeordneten die anderen auch direkt und ohne Übersetzer. Alle anderen hören die Simultanübersetzungen per Kopfhörer in der jeweils eigenen Sprache.
Wenn Abgeordnete das Plenum in ihrer Muttersprache ansprechen, geschieht dies allerdings auch sehr bewusst und ist richtig so. Es unterstreicht die europäische Völkervielfalt. So hielt es auch Iratxe García Pérez von der sozialdemokratischen spanischen PSOE. Sie ist seit der letzten Europawahl Fraktionsvorsitzende der S&D, der Progressiven Allianz der Sozialisten & Demokraten und erhielt das Wort unmittelbar im Anschluss an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Sie begann ihre Rede auf englisch und wechselte wenige Sätze später ins Spanische.
Der nach ihr sprechende CSU-Politiker Manfred Weber, Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volkspartei (EVP), sprach dagegen durchgängig englisch. Aber es war zu hören, wie schwer er sich damit tat. Ürsprünglich hatte er bekanntlich die Position Ursula von der Leyens angestrebt. engestrebt, aber so auf eine Weise, mit einer erhielt der Fraktionsvorsitzende
Vor unserem Plenumsbesuch hatte unsere Reisegruppe Gelegenheit zu einem Gespräch mit der Berliner Abgeordneten Gabriele Bischoff. Die Fragestellungen spiegelten wider, dass die Mehrheit der Mitreisenden, so wie ich selbst, der SPD angehörten. Aber die einmal im Bus neben mir sitzende Jutta war im EU-Informationszentrum beim Brandenburger Tor auf diese Reisemöglichkeit gestoßen und war parteilos.
Gaby Bischoff stand den Mitreisenden einmal zu diesem gemeinsamen Gespräch im Paul-Henri-Spaak-Gebäude zur Verfügung und dann noch einmal zu Einzelbegegnungen beim Abendessen in einem Restaurant.
Mich persönlich interessierte zum Beispiel, wie die EU bei künftigen Erweiterungen verhindern könnte, dass auch neue Mitglieder, sind sie erst einmal aufgenommen, auf den autoritäten und rechtsstaatswidrigen Kurs einschwenken, den bereits Polen und Ungarn verfolgen. Deren Regierungen könnten dann auch Richter in den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg entsenden, damit das freiheitliche Selbstverständnis Europas untergraben und ihre eigenen Abwege absichern.
Als ich ihr die Frage gestellt hatte, war sie sofort im Film, auch wenn sie natürlich keine schnelle Antwort parat hatte. Als stellvertretende Vorsitzende des Parlaments-Ausschusses für konstitutionelle Fragen befindet sich Gaby Bischoff diesbezüglich jedenfalls an einer Schlüsselposition. Besondere Bedeutung wird diese Position erlangen, wenn im Sommer die auf zwei Jahre angelegte Konferenz zur Zukunft der Europäischen Union beginnt und die Weichen neu stellt.
Auf mich machte Gaby Bischoff jedenfalls als Abgeordnete, die im vergangenen Mai erstmals ins Europaparlament gewählt worden war, einen kompetenten und wachen Eindruck. Das ist allerdings auch nicht wirklich erstaunlich. Sie ist seit mehr als zwei Jahrzehnten in der deutschen Europapolitik verwurzelt und hatte ihren Wohnsitz lange in Brüssel, teils für die Bundesregierung, teils für Gewerkschaften. Nachdem sie beim DGB-Vorstand die Abteilung Europapolitik geleitet hatte, war sie zuletzt Präsidentin der Arbeitnehmergruppe im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, eine ausgesprochen einflussreiche Position in unmittelbarer Nachbarschaft zum Parlament und zum „Berlaymont“, dem Sitz der EU-Kommission.
Kein Wunderauch bei diesem Erfahrungshintergrund, dass sie, obwohl Parlamentsneuling, sofort zur Berichterstatterin der S&D-Fraktion im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten gemacht worden war.
Eins ist auch bei einem politischen Brüsselbesuch unvermeidbar: eine Stadtbesichtigung und der Blick auf das Atomium. Dieses 102 Meter hohe neunteilige stilisierte Eisen-Molekül sollte einmal die Hoffnung auf ein friedliches Atomzeitalter versinnbildlichen und entstand anlässlich der Brüsseler Weltausstellung 1958.