Heute Nachmittag um kurz nach fünf (deutscher Zeit) ging das viertägige Hearing des Höchsten Gerichtshofs des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland zu Ende. Meine unmaßgelbliche Mutmaßung: Die britische Regierung wird diesen Brexit-Prozess verlieren. Das würde heißen, Premierministerin Theresa May würde ihre Ankündigung nicht umsetzen können, den Brexit Ende März ohne gesetzgeberische Handlungen des Parlaments gegenüber der EU zu erklären. Diese Erwartung ließ zum Schluss sogar der oberste Gerichtsrepräsentant der Regierung, James Eadie, anklingen. Eadie hatte am Montag fast ganztägig, dann noch am Dienstagmorgen und schließlich noch einmal heute Nachmittag ein unglaubliches Argumentationspensum und zahlreiche Zwischenfragen der elf Richter durchstanden.
Mein eigener Terminplan erlaubte mir zwar nicht, das Hearing vollständig zu verfolgen. Aber ich habe immer wieder reingeschaut. Es ließ mich dann nicht los, und ich habe mir dann mehrfach auch ein paar aufeinanderfolgende Stunden Zeit dafür genommen.
Mein in diesem Blog zunächst geäußerter Eindruck über die Richter war falsch. Ich bin beeindruckt. Und zwar sowohl von den Richtern wie von den Anwälten. Zwar verstehe ich vom britischen Common Law fast nichts, aber die Vortragstechnik, der offensichtliche Tiefgang, das oft spontane und stets sehr harte Frage- und Antwortspiel, die vielfach bildhafte und nicht selten auch humorvolle Sprache hielten mich in ihrem Bann. Was ich anfangs für salopp hielt, waren Auflockerungen innerhalb einer durch und durch ernsthaften Beweisführung. Es war ein großartiges Schauspiel.
Dem britischen Guardian zufolge führte dieses Berufungsverfahren zum ersten Mal in der Geschichte des Gerichts dazu, dass alle elf Richter gemeinsam auf der Richterbank saßen, um sich in einer mündlichen Verhandlung mit einem Fall zu befassen. Die Beteiligten ließen sich auch von den laufenden Kameras und den vielen Zuschauern vor den BBC-Bildschirmen oder vor dem Monitor oder dem Smartphone nicht irritieren.
Ich war im Lauf der Jahre bei einigen Dutzend mündlichen Verhandlungen vor obersten deutschen Bundesgerichten anwesend, am häufigsten beim Bundesfinanzhof, manchmal auch beim BGH, zuweilen auch beim Bundesverfassungsgericht. Eine solche hochkonzentrierte Rechtsdiskussion, die in einem solchen Stil abläuft, hatte ich noch nie erlebt. Unvorstellbar bislang, dass ein höchstes deutsches Bundesgericht bei einem solchen mündlichen Termin Fernsehaufnahmen und ihre Direktübertragung ins allgemeine Netz dulden würde. Allerdings hat in Deutschland auch noch keinen oberstes Gericht ein solches verfassungsrechtliches Mammutverfahren führen müssen, bei dem mehrere Kläger und vier staatliche Körperschaften – die britische Regierung und die Regierungen von Schottland, Wales und Nordirland – aufeinanderprallten.
Unvorstellbar in Deutschland auch, dass die Biografie des Präsidenten des höchsten Gerichts – hier: Lord David Neuberger – als Studienabschluss nicht ein erstes und zweites juristisches Staatsexamen nennt, sondern einen Abschluss als Chemiker.
Abschließend wies Lord Neuberger noch einmal – wie bereits zu Beginn des Hearings – darauf hin, dass es bei diesem Verfahren nicht um das „Ob“ des bereits per Plebiszit beschlossenen Brexit geht, sondern darum, ob die Regierung den Brexit im Alleingang durchführen kann. Oder ob das Parlament zuvor ein entsprechendes Gesetz beschließen muss, mit dem es zumindest das britische Beitrittsgesetz von 1972 und unter anderem auch das spätere Gesetz über die Wahlen zum EU-Parlament aufhebt.
Was Neuberger nicht sagte: Niemand weiß, was in diesem Fall geschähe, wenn die Parlamentarier kein solches Gesetz oder zumindest kein bedingungsloses solches Gesetz beschlössen.