Ende Februar ist Fritz J. Raddatz gestorben. Ich habe inzwischen einige Nachrufe über ihn gelesen. In keinem steht etwas zu der besonderen Rolle, die Raddatz als Feuilletonchef der Wochenzeitung DIE ZEIT bei der Entstehung der Filbinger-Affäre ausübte. Es gibt da ein noch nicht erzähltes und nicht ganz unwesentliches Detail. Ohne eine krass regelwidrige Eigenmächtigkeit von Raddatz am Chefredakteur vorbei wäre es nicht zu Filbingers Sturz gekommen.
Im April 1978 hielt ich mich für den Verlag Gruner + Jahr (G+J) 14 Tage bei der Wochenzeitung DIE ZEIT auf und nahm dort auch an den Redaktionskonferenzen teil. Eine davon – gut eine Woche vor dem 1. Mai – war eine Krisensitzung.
Thema der Konferenz war ein bereits am 17. Februar 1978 im Feuilleton der ZEIT erschienener Text Rolf Hochhuths mit dem Titel „Schwierigkeiten, die wahre Geschichte zu erzählen“. Es handelte sich um ein Kapitel seines neuen Romans „Eine Liebe in Deutschland“, der später von Andrzej Wajda, mit Hanna Schygulla in der Hauptrolle, verfilmt wurde. Vor allem aber enthielt dies Kapitel die inzwischen berühmten Formulierungen, die zum Sturz von Hans Filbinger als baden-württembergischer Ministerpräsident und zu seinem Rücktritt als stellvertretender Vorsitzender der CDU führten.
In dem Text beschrieb Hochhuth seine Recherchen bei noch lebenden Menschen, die sich selbst – etwa als Denunzianten oder als Galgenbauer – in der Nähe von Lörrach an dem von Staats wegen und wegen einer Liebesaffäre begangenen Mord an einem polnischen Zwangsarbeiter beteiligt hatten – dem Mord, der Gegenstand seines Buches wurde. Wem von ihnen und was von ihnen sollte er glauben? Hochhuth hielt etwas die Hälfte dessen, was ihm diese Mittäter jetzt über ihre damalige Tatbeteiligung berichteten, für gelogen. Er beklagte den fehlenden Willen des Bundeslands Baden-Württemberg, die noch lebenden Mörder „dingfest zu machen“. Das Kapitel endete mit dem folgenden Bandwurmsatz:
„Ist doch der amtierende Ministerpräsident dieses Landes, Dr. Filbinger, selbst als Hitlers Marine-Richter, der sogar noch in britischer Gefangenschaft nach Hitlers Tod einen deutschen Matrosen mit Nazi-Gesetzen verfolgt hat, ein so furchtbarer „Jurist“ gewesen, daß man vermuten muß – denn die Marine-Richter waren schlauer als die von Heer und Luftwaffe, sie vernichteten bei Kriegsende die Akten –, er ist auf freiem Fuß nur dank des Schweigens derer, die ihn kannten.“
(Quelle: http://www.zeit.de/1978/08/schwierigkeiten-die-wahre-geschichte-zu-erzaehlen)
Die Redaktionskonferenz, die ich damals miterlebte, stand aufgrund rechtlicher Gegenmaßnahmen Filbingers gegen diesen Satz unter großer Spannung. Objektiv sah es damals auch für Außenstehende so aus, als dürfte Filbinger juristisch siegen. Damit hätte er auch seine Behauptung stützen können, er sei das Opfer einer „Rufmordkampagne“ von „linken Drahtziehern“, unter Beteiligung der ZEIT.
Der noch lebende Hamburger Medienanwalt Heinrich Senfft (damals 58), der die ZEIT viele Jahre beriet und der Hochhut und die ZEIT vor Gericht gegen Filbinger vertrat, schildert den Beginn der Affäre in seinem ein Jahrzehnt später erschienenen Buch „Richter und andere Bürger“.
Im Dezember 1977, schreibt Senfft, habe ihm Fritz J. Raddatz das Hochhuth-Kapitel „das er eventuell gerne drucken würde“, zur Begutachtung zugesandt. Bezüglich der Schlussbemerkungen im Text hätte er geschrieben: „Ich fürchte, so kann man das nicht veröffentlichen“. Senfft habe dieser Einschätzung zugestimmt. Im Buch heißt es dann weiter: „Wir hörten von der Erzählung erst wieder, als der Brief der Filbinger-Anwälte vom 21. 2. 1978 bei der Zeit ankommt und sich herausstellt, daß die Redaktion während Raddatz‘ Abwesenheit den unveränderten Hochhuth-Text in der ZEIT vom 17.2.78 veröffentlicht“ hatte.
Senfft bezieht sich damit auf die von Filbingers Anwalt Klaus Sedelmeier der Wochenzeitung zugesandte Forderung, zu erklären, dass sie den langen Satz nicht wiederholen und diese Selbstverpflichtung abdrucken werde. Als weder Hochhut noch die ZEIT antworteten, legte Filbinger eine Woche später Klage beim Landgericht Stuttgart ein, um Hochhuth und der ZEIT die Formulierung verbieten zu lassen. Mit dem gleichen Ziel beantragte er zugleich eine einstweilige Anordnung. Listig wiederrief Hochhuth daraufhin den letzten Halbsatz – „er ist auf freiem Fuß nur dank des Schweigens derer, die ihn kannten“. Diese Formulierung sei ohnehin absurd gewesen, begründete er den scheinbaren Rückzieher: Kein Richter der NS-Zeit sei in der Bundesrepublik je für ein Unrechtsurteil bestraft worden. Womit Hochhuth leider Recht hatte – was unverstellt denkende Bürger angesichts von mehr als zwanzigtausend Justizmorden allein durch deutsche Militärrichter während der NS-Diktatur auch fast 70 Jahre nach der Befreiung noch fassungslos machen muss.
Filbinger aber fehlte jedes Unrechtsbewusstsein bezüglich seines eigenen Tuns als Marinerichter im besetzten Norwegen. Hochhuths ironisches Zugeständnis genügte ihm nicht. Er wollte ein Verbot des gesamten Satzes. Das Landgericht beraumte daraufhin für Ende April eine mündliche Verhandlung in Stuttgart an und forderte Filbinger, Hochhuth und den ZEIT-Herausgeber Gerd Bucerius auf, zu erscheinen.
Anwalt Heinrich Senfft schildert die Stimmung der Redaktion kurz vor dem Verhandlungstermin so: „.. vorerst stehen alle ratlos mit leeren Händen da, voller Angst.“ Diese Stimmung war auch nach meinem Eindruck mit Händen zu greifen, als jene Redaktionskonferenz mit Chefredakteur Theo Sommer, Fritz J. Raddatz und Anwalt Senfft wenige Tage vor dem anberaumten Gerichtstermin stattfand.
Filbingers Prozessstrategie ging nach hinten los. Aufgrund der Klage des CDU-Politikers hatte das Bundesarchiv inzwischen auch Rolf Hochhuth Einblick in die noch vorhandenen Urteilsakten der deutschen Marinegerichte im früheren Zuständigkeitsbereich des Ministerpräsidenten gewährt. Dort hatte Hochhuth noch im April die Unterlagen zum Prozess gegen den Matrosen Walter Gröger gefunden, der eine so genannte Fahnenflucht von Norwegen nach Schweden vorbereitet, dann aber von seinem Plan abgelassen hatte.
Grögers Verurteilung zum Tode hatte Filbinger auf Weisung seines Flottenchefs beantragt und aktiv betrieben. Filbinger hätte sich weigern können, den Antrag zu stellen. Aber er hielt die Todesstrafe gegen Gröger für richtig. Die Hinrichtung hatte er mit Nachdruck durchgesetzt, sich selbst hatte er zum Leiter des Exekutionstrupps bestellt und die Exekution dann tatsächlich auch selbst geleitet. Nach und nach stellte sich heraus, dass sich Filbinger in Norwegen von 1943 bis 1945 jedenfalls an vier Todesurteilen beteiligt hatte.
Hochhuths auf Filbinger gemünzte Begriffsschöpfung „furchtbarer Jurist“ wurde Bestandteil der deutschen Sprache als Gattungsbegriff für Unrecht sprechende, aber sich auf geschriebenes Recht berufende Richter. Filbingers Rücktritt als Ministerpräsident wurde im Sommer 1978 unausweichlich und erfolgte am 7. August.
Bei jener Redaktionskonferenz vier Monate vor dem Rücktritt aber war Hochhuths Gröger-Enthüllung in der ZEIT-Redaktion noch niemandem – oder nur sehr wenigen, vielleicht Raddatz – bekannt. Nach meiner Erinnerung bestand weitgehend Konsens über die Einschätzung des Redaktionsanwalts Senfft („So kann man das – juristisch gesehen – nicht veröffentlichen“), dass der Abdruck des Hochhuth-Texts ein schwerer redaktioneller Fehler war.
Chefredakteur Sommer machte in dieser Situation sehr nachdrücklich deutlich, dass er selbst den Satz zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht gekannt hatte.
Die Formulierung von Rechtsanwalt Heinrich Senfft, dass „die Redaktion“ den Text „während Raddatz‘ Abwesenheit … veröffentlicht“ hätte, halte ich für absichtlich unscharf. Sie ist wohl Senffts Loyalität zur Redaktion geschuldet. Aber sie ist nach meiner Erinnerung falsch, zumindest irreführend.
Zwar weiß ich nach all den langen Jahren nicht mehr, wie sich Raddatz zu dem redaktionellen Ablauf äußerte, der schließlich zur Veröffentlichung des Beitrags geführt hatte. Ich weiß nicht einmal mehr, ob er sich bei der Konferenz überhaupt dazu äußerte. Aber aus den Flurgesprächen in der Redaktion und Kneipengesprächen mit Beteiligten folgerte ich, dass Raddatz‘ explizit oder implizit die Behauptung abgegeben hatte, bei diesem Manuskript nicht aktiv in den normalen Redaktionsablauf eingegriffen zu haben. Danach lag das Manuskript in einem Ordner oder Korb mit Reserveartikeln. Aber das sind keine Informationen, die ich aus erster Hand habe.
Andererseits: Solche Texte vor ihrer Veröffentlichung der Chefredaktion vorzulegen, ist in jeder Redaktion eine Bringschuld des jeweils zuständigen Ressortleiters. In diesem Fall wäre es die Bringschuld des Feuilletonschefs Raddatz gewesen, und zwar auch dann, wenn der von Raddatz verantwortete Hochhuth-Text, wie Senfft schreibt, „während Raddatz‘ Abwesenheit“ veröffentlicht worden war.
Sehr genau erinnere ich mich aber an Theo Sommers Replik. Sommer zog in Zweifel, dass ihm Raddatz oder die Feuilleton-Redaktion das Manuskript vorab zugeleitet hatten. Der von Sommer dann angeführte Beweisgrund war beeindruckend und brannte sich in meine Erinnerung ein. Er ist mir auch noch heute, 37 Jahre später, voll präsent. Sommer sagte, er hätte in seiner Zeit als Leiter des Planungsstabs im von Helmut Schmidt geführten Bundesverteidigungsministerium (das war 1969 und 1970) eines gelernt und verinnerlicht: absolut jedes Papier, das über seinen Schreibtisch gehe, von Hand zu signieren. Ein solches von ihm signiertes Manuskript des Hochhuth-Texts existiere nicht.
Das ist etwas anderes, als das, was Senfft schrieb und die Öffentlichkeit bis heute annimmt. Nach Senffts Version veröffentlichte „die Redaktion“ – und das umfasst selbstverständlich vor allem auch die Chefredaktion – das Manuskript trotz Raddatz‘ Bedenken und ohne dessen Zutun und sogar während dessen Abwesenheit. Nach der zitierten Aussage Theo Sommers musste Raddatz den Hochhuth-Text so in den Redaktionslauf eingespeist haben, dass er am Chefredakteur vorbei in der ZEIT veröffentlicht wurde. Ein kleiner, aber nicht ganz unwesentlicher Unterschied.
Um so mehr sagte Theo Sommer also tatsächlich die volle Wahrheit, als er Wochen später in der ZEIT schrieb: „… der ständig wiederkehrende wehleidige Vorwurf, Filbinger sei das Opfer einer „Kampagne“, (ist) eine durchsichtige Schutzbehauptung. Für die ZEIT, die ja den Anstoß zur Filbinger-Affäre gegeben hat, sei ein für allemal erklärt: Nichts dergleichen lag in unserer Absicht, als wir im Februar jene Leseprobe aus einer unveröffentlichten Erzählung von Rolf Hochhuth abdruckten.“
Am Abend nach jener Redaktionskonferenz – oder war es einige Tage später? – saß ich bis in die Nacht mit dem längst verstorbenen politischen ZEIT-Redakteur Hans Schueler zusammen in dessen Zimmer. Wir sprachen kaum über Filbinger, aber viel über Politik und Journalismus. Ich erzählte ihm Details, die er interessant fand und nicht kannte, über die Flügelkämpfe bei den Jungsozialisten und den zwei Monate vorher zum Juso-Vorsitzenden gewählten und ansonsten kaum bekannten Gerhard Schröder.
Aber meist sprach er. Er hatte viel Authentisches und selbst Erlebtes zu erzählen und war in Sachen Pressefreiheit und Pressewahrheit das, was man landläufig eine „Respektsperson“ nennt. Er war ein angesehender Jurist, zudem ein erfahrener Militärexperte und auch auf diesem Feld ein Praktiker. Er flog immer noch regelmäßig Kampfjets als Pilot, hatte vor kurzem wieder einen solchen Flug über der Nordsee absolviert und machte deutlich, welche Freude er daran hatte. Er holte eine Flasche Whisky aus seinem Kühlschrank und trank sie mit mir aus. Er verließ die Etage als Vorletzter. Ich blieb allein in der Redaktionstoilette zurück und kämpfte mit meiner Übelkeit.
Am 4. Mai, ein Himmelfahrtstag, saß der Militärexperte und Jurist Hans Schueler im Auftrag des Chefredakteurs Theo Sommer in Stuttgart Hans Filbinger gegenüber. Kurz vor oder nach dem 1. Mai hatte Sommer das Ergebnis der Hochhuth- Recherchen zum Fall Gröger erhalten. Schueler konfrontierte den Ex-Marinerichter, baden-württembergischen Ministerpräsidenen, stellvertretenden CDU-Vorsitzenden und Aspiranten auf den Stuhl des Bundespräsidenten an diesem Tag erstmals mit dem von ihm kurz vor Kriegsende beantragten und unter seiner Leitung vollstreckten Todesurteil gegen den Matrosen, der eine Fahnenflucht vorbereitet, aber unterlassen hatte.
Anmerkung: Ich hatte bereits kurz nach Raddatz‘ Tod hier eine kürzere Notiz zu dem Thema geschrieben. Sie war aber unvollständig und in mehreren Details ungenau. Ich habe sie gelöscht und durch den hier stehenden Text ersetzt.