Meine Frau surfte vorgestern – nur mal so – über die Internet-Seite der Komischen Oper. Da sah sie, dass es plötzlich Karten für die gestrige Aufführung der 2012 hier uraufgeführten Zauberflöten-Inszenierung gab. Was für ein Glück. Und was für ein Augenöffner diese Inszenierung ist!
Bislang waren alle Vorführungen so früh ausgebucht, dass wir nie zu einem realistischen Zeitpunkt Karten bekommen hatten. Denn die Nachfrage nach diesem Gemeinschaftsprodukt von Barrie Kosky, dem Chefregisseur der Komischen Oper, und der Londoner Performance-Gruppe „1927“ mit ihren Köpfen Suzanne Andrale und Paul Barritt ist groß. Und jetzt tingeln „1927“ und die Komische Oper mit dem Stück erstmal durch Deutschland und durch die Welt und lassen sich ohne Ende feiern.
Wir buchten also sofort.
Der Grund für die günstige Gelegenheit: Eigentlich sollte es gestern „Eine Frau, die weiß was sie will!“ geben, mit Dagmar Manzel in einer der beiden Hauptrollen. Sie war zwei Tage vor der Aufführung erkrankt. Die Komische Oper zauberte in aller Schnelle diese Sonderaufführung hervor. Das abgesetzte Stück hatten wir schon gesehen. Auch dafür hatten wir im letzten Moment noch Karten bekommen, sogar zur Premiere. Jetzt waren wir froh, als Nachzügler noch an die Reihe zu kommen.
Diese Zauberflöte bleibt eine Provokation. Die Schauspieler sagen während der gesamten Aufführung kein Wort und unterbrechen ihr Schweigen nur, wenn sie zu singen haben. Kein gesprochener Dialog „überspielt“ das Geschehen. Die Monologe, Dialoge und Überleitungen erscheinen wie im Stummfilm nur typografisch auf der Leinwand. Das verfremdet die Wirkung und versachlicht die Aussage und legt offen, wie sprunghaft und widersprüchlich der Handlungsfaden in der Textgrundlage ist. Dafür hatte allerdings auch schon der Einführungsvortrag vor Beginn der Aufführung sensibilisiert.
Die „böse“ Königin der Nacht hat lautere Absichten. Sie will ihre mit Gewalt entführte Tochter befreien lassen. Und ihre Rachegefühle gegen den Entführer ihrer Tochter sind legitim. Der „gute“ Sarastro wiederum („In diesen heiligen Hallen kennt man die Rache nicht“) ist zugleich der Entführer der Tochter und lässt seinen schwarzen Sklaven auspeitschen. Mozart und sein Librettist verurteilen die Auspeitschung nicht. Auch die Zuschauer soll diese sadistische Strafe offensichtlich zufrieden stellen.
Solche Einsichten mögen für andere Operbesucher – und für Profis so wie so – kalter Kaffee sein. Für mich gilt das nur bedingt. Ich werde jedenfalls kaum wieder in der Lage sein, mich von einer plüschigeren Inszenierung einfach nur wohlig einnebeln zu lassen. So abwechlsungsreich und vielfältig die Musik auch ist, bis hin zur zitierten Bachmotette gegen Ende der Oper.
Auch für die avantgardistische Londoner Performancegruppe ist diese Inszenierung, wie sie selbst schreibt, Neuland. Das Verrückte sind nicht allein die fantasievollen Comic-Animationen (von Paul Barritt) selbst, sondern dass die Comics gleichberechtigt neben den Schauspielern und dem Orchester selbst handeln. Sie interagieren mit den Schauspielern, mit anderen Comicfiguren, mit den Arien, mit den Einsätzen des Orchesters. Die Comics erhalten ihren Einsatz während des Abends hunderte Male von Hand.
Der für mich wichtigste Nachteil dieser neuen Darbietungsart: Meine Aufnahmefähigkeit für die Musik leidet. So wie ich am Steuer bei unübersichtlicher Verkehrslage das Gespräch unterbreche und eventuell das Radio leiser stelle, so möchte ich mich auch hier auf die Knotenpunkte des Operngeschehens konzentrieren können. Das geht nicht.
Denn der optische Teil der Inszenierung ist witzig, aber zugleich dominant und unruhig. Ich muss schmunzeln, ich muss prusten; meine Augen verfolgen unablässig bunte Blumen, bedrohliche Tentakel, fliegende Herzen, Flügeltiere. Und das bringt – jedenfalls nach meinem sehr subjektiven Empfinden – die Orchesterklänge und die Gesänge viel zu oft um ihre Wirkungen.
Mir 3-jähriger Verspätung komme ich jetzt trotzdem zu dem Schluss, dass ich diese Inszenierung als revolutionär in positivem Sinn empfinde. Ich hatte Vergleichbares vorher noch nie erlebt. Diese Integration von Imaginärem und Realem wird bestimmt zu vielen weiteren Neuerungen führen, die mit dem Aufmerksamkeitsproblem von meinesgleichen schonender umgehen und mehr Selbstbestimmung beim Hören und Schauen zulassen.