Wenn sich der Sommer ankündigte, freute ich mich als Kind immer auf die Zeit, in der ich ohne Schuhe nach draußen durfte. War es dann endlich so weit, verdarben mir das heiße Pflaster und die spitzen Kiesel Jahr für Jahr zunächst den Spaß. Wurde es später wieder kälter, und ich zog im Freien lieber wieder Schuhe an, hatte sich unter meinen Füßen jedes Mal inzwischen eine schützende, aber nun überflüssige Hornhaut gebildet.
Die Erinnerung daran kam zurück, als ich gestern von Norden nach Süden durch den Lido von Venedig streifte und einer meiner liebsten Beschäftigungen nachging: wandernd grübeln oder grübelnd wandern. Meine Sandalen trug ich in der Hand. Ich hatte sie noch in einem deutschen Drogeriemarkt gekauft und zu spät gemerkt, dass sie nichts taugen. Aber der Asphalt auf dem Strandboulevard Lungomare Guiliemlmo Marconi war für meine ungeübten Füße zu heiß. Obwohl doch gestern bereits der September begann. Die Fußwege links und rechts der Straße bestehen aus Schotter. Dort war die Temperatur erträglich.
Ich wählte den seeseitigen Fußweg und nahm die zum Teil recht scharfkantigen Steine in Kauf. Eigentlich hatte ich jetzt links von mir Strand und die freie Adria erwartet. Doch die mit dichtem Buschwerk abgeschirmten Strandcafés erlaubten keine Sicht dorthin. Offenes Wasser hatte ich nicht gesehen, seit ich vor einer Stunde die Linie 14 des Wasserbusses Vaporetto auf der anderen, Venedig zugewandten Seite des Lido verlassen hatte. Langsam wurde ich ungeduldig. Meine Vorbereitung in der Vornacht hatte vor allem darin bestanden, Thomas Manns „Tod in Venedig“ zu rekapitulieren, indem ich in Wikipedia eine Zusammenfassung und eine ausführliche Interpretation des Buchs las. Aber vor meinem inneren Auge dominierten die Bilder von der gleichnamigen Film-Adaption Luchino Viscontis.
Der Boulevard war, abgesehen von gelegentlichen Pkw- und Bus-Insassen oder Radfahrern, fast menschenleer. Eine Zeitlang überlegte ich, in welchem der Cafés ich gegen die Hitze einen Espresso Doppio trinken und mir dabei die Menschen auf dem berühmten Strand ansehen sollte. Dass ich den Gedanken nicht umsetzte, lag an einem großgewachsenen Fußgänger, der auf dem Asphalt an mir vorbei schlenderte. An seiner Seite ging eine Frau. Das Gesicht des Mannes kannte ich, das der Frau nicht. Der Mann war annähernd 70, bärtig und vom Typ her nordisch. Ihn musste ich schon in einem oder in mehreren Kinofilmen gesehen haben. Aber mir fiel weder ein Name noch ein Filmtitel dazu ein. Ich hatte seine Gestalt jetzt nur ganz kurz und beiläufig mit den Augen gestreift. Ich hatte schon immer einen starken inneren Widerwillen gegen Promi-Gafferei. Wenn man einer Person des öffentlichen Lebens begegnet und sie erkennt, dann reicht das. Man muss ihr keine Bewunderung entgegenbringen, indem man sie länger als nötig betrachtet.
Hätte ich den Mann gründlicher angeschaut, wäre mir vielleicht eine Erinnerung gekommen. Aber dann hätte ich riskiert, dass er mich mit den Augen dabei ertappt, wie ich ihn anstarre. Das wäre mir zuwider gewesen. Außerdem ging mir jetzt etwas Anderes durch den Kopf: dass ich als Klatschjournalist eine glatte Fehlbesetzung wäre. Auch deshalb, weil sich oft Physiognomien aus den beiläufigsten Begegnungen sinnloserweise in mein Gedächtnis einbrennen. Zum Beispiel, weil jemand ganz zufällig für eine Viertelstunde in meiner Blickrichtung steht. Vielleicht beim Warten am Flugsteig oder bei einer x-beliebigen Veranstaltung. Sehe ich denselben Menschen zufällig ein halbes Jahr später an einem anderen Ort, bin ich nie sicher, ob ich mit ihm nicht schon einmal ein ausgiebiges Gespräch geführt habe. Immer wieder diagnostiziere ich deshalb jemanden falsch positiv als Bekannten.
Manchmal ist das richtig peinlich. Beruhigend ist nur, sagte ich mir jetzt aber, dass das nicht nur für mich gilt. Im Berliner Regierungsviertel nicken dir oft wildfremde Personen zu. Sie schließen offensichtlich nicht aus, dass du sie kennst und dass du meinen könntest, sie müssten eigentlich auch dich erkennen.
Seit Jahrzehnten staune ich über Menschen, die Gesichter und Namen stets sicher zuordnen können. Fotografen zum Beispiel sind auf diesem Feld oft richtige Genies. Sie fotografieren auf einer Großveranstaltung, vielleicht dem Bundespresseball mit 2500 Teilnehmern aus Politik, Wirtschaft, Verbänden, Medien. Und wenn sie hinterher ihre Bilder sortieren, können sehr genau sagen, was das für Personen sind, die sich auf dem jeweiligen Bild befinden. Wer solche Fähigkeiten besitzt, geht mit anderen Augen durch das Leben und würde selbstverständlich ohne jedes Zögern wissen, welche wichtige Person da eben vorbeiflaniert war. Ein solcher Mensch hätte natürlich auch gewusst, ob die Begleiterin nur eine Nebenbesetzung darstellte oder womöglich noch viel berühmter ist.
Inzwischen hatte sich das Straßenbild geändert. Vor mir rechts befand sich ein flaches, weißes Gebäude, über und über mit dreieckigen knallroten Luftballons geschmückt. Auf den Ballons stand in Großbuchstaben: „72. Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica“. Zu lesen war ferner: Am Abend des 2. September beginnen die 72. Internationalen Filmfestspiele, die stets mit der Verleihung der nach dem Oskar berühmtesten Filmtrophäe enden, dem Goldenen Löwen. Gestern war der 1. September, und das zweigeschossige Gebäude, vor dem ich stand, war der „Filmpalast“. Jetzt fielen mir auch die vereinzelten Fotographen auf und die Kameraleute mit und ohne Teams auf der Suche nach Motiven.
Ich zog meine Sandalen wieder an und betrat das Gebäude. Die Pressestelle befindet im Untergeschoss rechts. Im Treppenhaus tauschten sich Gruppen von Journalisten lebhaft aus. Vor dem Tresen zeigte ich meinen Presseausweis und fragte, ob ich trotz der versäumten schriftlichen Akkreditierung noch eine Chance hätte, den Eröffnungsfilm am Eröffnungsabend anzuschauen. Ich hatte gesehen, dass es sich dabei um „Everest“ handelt, die Nacherzählung einer tatsächlich stattgefundenen Bergsteigerkatastrophe, die der aus Island stammende Schauspieler und Regisseur Baltasar Kormakur vorstellen wird. Die Großplakate vor der Tür zeigten an, dass der Film in drei Wochen in die italienischen Kinos kommt.
Die freundliche Frau in der Pressestelle enttäuschte mich nicht und deutete sogar an, dass ich, wenn ich alles schnell erledigte, wohl auch noch an der Eröffnungsfestivität teilnehmen könne. Ich solle dem Leiter der PR-Abteilung nur noch schnell einen einschlägigen journalistischen Tätigkeitsnachweis zumailen. Sie schrieb mir seine Mail-Adresse auf. Ich bedankte mich freundlich und verkniff mir, ihr sagen, dass ich meinen alten Smoking, das weiße Oberhemd und die Manschettenknöpfe unglücklicherweise nicht in meinen Zeltsack gestopft hatte. Das wäre auch falsche Koketterie gewesen. Ich bin immerhin für einen Opernbesuch ausgestattet, weil meine Frau und ich uns mit zwei Freunden für kommende Woche zu einer Verdi-Vorstellung in Verona verabredet haben.
Und einen kinobezogener Tätigkeitsnachweis? Na ja, vor Jahrzehnten habe ich einmal ein Sonderheft „Alles über James Bond“ der Zeitschrift Cinema geschrieben, sogar als mein eigener Chefredakteur. Und vor ein paar Jahren hatte ich für eine Gewerkschaftszeitschrift den sozialkritischen Spielfilm „It‘s a Free World“ des britischen Regisseurs Ken Loach besprochen. Loach hatte im Jahr davor bei den Filmfestspielen in Cannes die Goldene Palme gewonnen. Bei den Filmfestspielen hier in Venedig wurde ihm schon zweimal ein Goldener Löwen verliehen, einmal davon für sein Lebenswerk. Die Artikel hätten wohl als Tätigkeitsnachweis gereicht. Ich hätte aber sofort zum Zeltplatz zurückkehren und die Unterlagen aus Berlin downloaden müssen. Außerdem verspüre ich als Alleinreisender keine besondere Lust auf das Fest mit lauter mir unbekannten Bekanntheiten. Jetzt ist es eh zu spät.
Draußen hatten soeben die Kassen geöffnet. Es hatten sich noch keine Schlangen gebildet. Für „Everest“ gab es gleich für den Eröffnungsabend Tickets einer amerikanischen Vorabversion mit italienischen Untertiteln. Ich hatte fast den Eindruck, der erste Käufer zu sein.
Dann setzte ich meinen Lido-Streifzug fort und ging wirklich an den Strand. Der nächste Weg dorthin führt über den Boulevard durch das Foyer des Grand Hotel Excelsior schräg gegenüber. Das Hotel gilt als das eigentliche Zentrum des Filmfestivals. Im Inneren sah es nach normalem Geschäftsbetrieb aus, nicht wie am Vortag eines Großevents. Auch die zur hoteleigenen Blue Bar gehörende Terrasse mit Adriablick war nahezu verwaist. Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich das Bild des Hotels aus dem „Tod-in-Venedig“-Film noch abrufen könnte. Das funktionierte nicht.
Der Strand war breit, und hunderte Meter in beide Richtungen fast menschenleer. Erst gut einen Kilometer weiter in Norden, hinter einer bewachten Sperre, drängen sich die Badegäste. Aber hier, diesseits der heute kaum besuchten Strandcafés, lag nur hin und wieder eine Frau oder ein Paar im Sand, um sich zu sonnen. An einigen der Steinbuhnen, die in regelmäßigen Abständen ins Meer ragen, standen Leute im dort etwas Tieferen. Nur wenige schwammen. Am Strand vom dem Excelsior wurde gerade das große Festivalzelt aufgebaut. Ich schaute den Arbeitern ein wenig zu und machte mir klar, dass ich mich auf einer Zelttour durch Italien befinde, nicht auf einer Dienstreise, von der ich mit Ergebnissen zurückkehren müsste. Ich überquert den glühheißen Strand barfuß und ging bis an die Waden ins Wasser. Es war lauwarm.