Von Anfang Februar bis in den April 1978 arbeitete ich im New-Yorker Verlagsgebäude von Gruner + Jahr. Auf dem John-F.-Kennedy-Flughafen traf ich mit Beginn einer der schlimmsten Schneekatastrophen ein, die Neuengland und New York seit Beginn der Aufzeichnungen erlebt hat, mit mehr als hundert Toten. Wegen des Wetters und der damals herrschenden Terrorfurcht nahm die Anreise für mich einen besonders unangenehmen Verlauf. Aber dann wurden daraus zweieinhalb herrliche, vor allem aber außergewöhnlich lehrreiche Monate. Diese Erinnerung geht mir jetzt, am Tag nach dem ebenfalls besonders heftigen New-Yorker Blizzard vom 23. Januar 2016, durch den Kopf. Die Lufthansa-Maschine aus Frankfurt hatte am 6. Febraur 1978 wetterbedingt einen weiten Umweg nach Norden genommen. Der Himmel war leuchtend blau, und die unendlichen Schnee- und Gletscherfelder von Grönland hatten prächtig in der Sonne geglitzert. Als ich meinen Koffer nach der Landung am Laufband abholen wollte, war er nicht mitgekommen. Ich hatte ihn in Hamburg am Flughafen aufgegeben. Die Maschine war dort mit Verspätung losgeflogen, weil sich die Sicherheitskontrollen hingezogen hatten. Direkt nach dem Start hatte das Flugzeug einen merkwürdigen Zickzack-Kurs eingeschlagen. Über den Grund der Kurverei ging an Bord ein beunruhigendes Gerücht um. Sie sollte der Gefahr vorbeugen, durch Mitglieder der Baader-Meinhof-Gruppe abgeschossen zu werden. Die Geiselbefreiung in Mogadischu, der Mord an Hanns-Martin Schleyer und die Todesnacht in Stammheim mit dem mutmaßlichen Selbstmord von drei Gefangenen und dem mutmaßlich versuchten Selbstmord einer vierten Gefangenen lagen gerade einmal elf Wochen zurück. In Frankfurt war ich dann mit deutlicher Verspätung gelandet und hatte das Flugzeug im Laufschritt wechseln müssen. Das Umladen des Koffers hatte nicht mehr geklappt.
Am Lufthansaschalter in New York hieß es nun, der Koffer werde mit der nächsten Maschine nachkommen. Da mir jetzt sämtliche Reiseutensilien fehlten und ich auch nur leichte Kleidung trug, übernahm die Lufthansa die Kosten für eine Hotelübernachtung im Hilton direkt am Flughafen. Als ich eincheckte, gab es draußen ersten Schneefall. Aufgrund des Time-Lag wachte ich sehr früh auf und hörte Radio-Nachrichten, die ich nicht einordnen konnte. Fußgänger wurden zum Beispiel wegen Lawinengefahr davor gewarnt, sich auf der Lexington Avenue dem Citicorp Building zu nähern. Mit dem Taxi in die Stadt zu fahren, war wegen den inzwischen sehr hohen Schnees nicht möglich. Als ich schließlich vormittags in meinem leichten Mantel die U-Bahn in der Lexington Avenue bei heftigem Schneetreiben verließ und mit dünnen Ledersohlen die dicke Schneedecke betrat, sah ich durch das Gestöber das extrem schräge Dach des Citybank-Wolkenkratzers und verstand die Warnung endlich. Das erste allerdings, auf das ich beim Aussteigen blickte, wirkte einfach nur verrückt: ein auf der gegenüberliegenden Straßenseite mitten im Schneetreiben lichterloh brennendes altes Holzhaus. Einige der Menschen auf der Straße bewegten sich auf Langlaufskiern vorwärts. Der Motorverkehr ruhte.
Der Flughafen blieb aufgrund der Schneemengen und des Wetters länger als eine Woche gesperrt. Mein Koffer flog täglich von Frankfurt Richtung New York, wurde jedes Mal umgeleitet nach Toronto, kam dort in einen bombensicheren Raum, flog dann mit der Lufthansa zurück nach Frankfurt und von dort aus wieder nach New York. Die Lufthansa gab mir einen großzügigen Zuschuss für eine neue Erstausstattung an Bekleidung und für einen neuen Koffer. In einem Laden nahe dem Hudson-Ufer kaufte ich für einen Spottpreis das Vorjahresmodell der damals relativ teuren Samsonite-Koffer.
Das, was in in den folgenden Wochen lernte, hat mir jahrzehntelang genutzt und hilft mir noch heute. Davon bei anderer Gelegenheit mehr.
Der Koffer, den ich damals neu gekauft hatte, begleitete mich lange. Er trägt sogar den Aufkleber eines Jagdhotels in Grönland. In jenem Frühjahr war er mit auf Abstechern nach Washington und nach Boston, zum Skifahren in den nördlichen Appalachen. Zum Abschluss lud ich meine damalige Freundin und den Koffer in einen kleinen Sportwagen, mit dem ich von Los Angeles über Las Vegas, die Sierra Nevada, San Francisco und dann fast tausend Kilometer auf der spektakulären Pazifik-Küstenstraße Highway No. 1 zurück zum Ausgangspunkt fuhr.
Danach konnte ich mich von dem schon bald verbeulten Koffer nicht trennen, weil ich nach der Reise zu pleite war, um gleich wieder einen neuen zu kaufen. Heute kann ich es aus Nostalgie nicht. Unbedingt behalten wollte ich auch das T-Shirt mit dem Aufschrift „I survived the New York Blizzard of ‘78“, das schon längst überall aushing, als der Kennedy-Flughafen wieder den Betrieb aufnahm. Aber es hat nicht überlebt.