Am vergangenen Wochenende habe ich mit meiner Frau, mit einer gemeinsamen Freundin, mit meiner in Essex lebenden Kusine und einem im Rheinland wohnhaften Freund und Vetter Geburtstag in London gefeiert.
Nachdem wir drei Berliner dem Gatwick-Express in der Victoria Station entstiegen waren, tranken wir vor dem nächsten Pub erstmal zur Selbstbegrüßung im Freien ein Bier. Die beiden Frauen teilten sich zur atmosphärischen Eingewöhnung eine Portion Fish & Chips. Das Lokal heißt, angeblich zum Gedenken an den Vater des Poeten, „The Shakespeare“. Dass sich Peter, unser hellblonder nächster Tischnachbar, hier auch ein paar Biere gönnte, hatte ebenfalls mit dem Gatwick-Express zu tun. Er wollte einen möglichst späten Zug zum Flughafen nehmen und sich die Zeit bis dahin lieber im „Shakespeare“ vertreiben, als vor einem öden Abflug-Gate.
Peter war er ein interessanter Typ, Labour-Mitglied, nachträglicher Tony-Blair-Anhänger (mit Ausnahme der Irakkrieg-Sache). Was er jetzt schon ziemlich bereute war, bei der Mitgliederbefragung vor einem Jahr seine Stimme dem – wie er meint – wirtschaftspolitisch wenig kompetenten jetzigen Labour-Chef Jeremy Corbyn gegeben zu haben. Fast eine Stunde und drei Bier später hatte Peter mich voll in seine politische Sichtweise eingenordet, die ich mir übrigens, soweit ich mir in britischen Dingen eine Meinung zutraue, gerne aneignete. Ich weiß jetzt, dass keine zuverlässige Prognose des bevorstehenden Europa-Plebiszits möglich ist, dass Tory-Chef David Cameron keine Chance gegen seinen vermutlichen Nachfolger Boris Johnson haben dürfte, dass der vor 14 Tagen gewählte neue Londoner Bürgermeister Sadiq Khan ein prima Labour-Mann ist, er die Wahl aber wohl verloren hätte, wäre Boris Johnson noch einmal als Bürgermeisterkandidat angetreten. Und vieles mehr.
Peter hätte mit Vergnügen noch weiter erzählt, und ich hätte ihn gerne noch weiter gelöchert. Aber wir wollten uns dann doch mal zum Bus 148 aufmachen, der uns von der Victoria Station fast direkt zu unserem Hotel nördlich des Hydepark brachte. Wir wären zwar mit dem Tube schneller ans Ziel gekommen, aber die zweistöckigen Londoner Busse bieten aus dem Obergeschoss ein unvergleichlich lebendiges Sightseeing-Panorama. Zum Essen in SoHo fuhren wir dann ebenfalls mit dem Bus (Nummer 94). Inzwischen bedauerten wir, mit Peter keine Visitenkarten ausgetauscht zu haben.
Zuhause heißt es oft, dass Berlin die einzige Stadt Deutschlands ist, die man zu Recht als Metropole bezeichnen kann. Nach meinem Empfinden stimmt daran, dass Berlin dieses Etikett wohl eher zukommt als Hamburg und viel eher als München. Es genügt ein Blick in die gedruckten kommerziellen Veranstaltungsmagazine, um zu sehen, mit welchem Abstand Berlin mehr zu bieten hat als andere deutschen Städte. Ich kenne keine Stadt im deutschen Sprachraum, in der ich mich so zuhause fühle, wie hier.
Aber für mich gehören zu einer echten Metropole ein paar Besonderheiten, die Berlin fehlen: eine dort erscheinende national meinungsführende Zeitung zum Beispiel und vor allem ein Meer oder ein Strom und ein richtger Hafen. Selbst in Paris teilt sich vergleichsweise viel Wasser vor der Notre-Dame-Kathedrale und fließt von dort in den Atlantik. Die Stadt verfügt auch über einen der größten Binnenhäfen Frankreichs. Doch erst an der Themse wird einem wirklich klar, welche trockene Ironie dem Wort Spreemetropole innewohnt.
Es ist natürlich nicht nur der große Strom, mit dem die Hauptstadt des versunkenen Commonwealth beeindruckt. Aber ohne ihn wären die unzählbar vielen und vielfältigen Eindrücke, die das metropolenhafte der Stadt ausmachen, einfach unfertig. Ich liebe Berlin, keine Frage. Aber nach ein paar Stunden Fußmarsch durch London drängte sich uns Berlinern – jedem für sich – wieder einmal der Eindruck auf, dass London als Großstadt in einer Liga spielt, die Berlin nicht erreicht.
Dann aber fiel mir eine Kleinigkeit auf, die dieses Bild, jedenfalls für mich, doch ein kleines bisschen korrigierte. Nahe der Leicester Square sah ich ein ziemlich großes Filmplakat, das Werbung für den französisch-türkischen Film „Mustang“ machte.
Das wäre mir normalerweise nicht weiter aufgefallen. Aber wir hatten uns diesen Film über den Kulturkampf fünf ungebärdiger junger Mädchen (daher der rätselhafte Titel Mustang) an der türkischen Schwarzmeerküste bereits vor gut drei Monaten zum Auftrakt der Berlinale angesehen. Die SPD hatte den oscar-nominierten Streifen im Willy-Brandt-Haus an der Wilhelmstraße als Preview gezeigt, im Beisein der Regisseurin Deniz Gamze Ergüven und im Anschluss an eine Diskussion zur Reform des Urheberrechts mit Justizminister Heiko Maas. Noch im Februar kam der Film dann auch regulär in die Kinos. Ein solcher Zeitablauf bleibt für eine Weile im Bewusstsein.
Ein schöner Film, dachte ich, als ich gegen 23 Uhr todmüde ins Bett sank und mir ausgerechnet dieses Plakat noch einmal einfiel. Eine so große Werbewand für diesen Film hatte ich in Berlin nicht gesehen. Dabei war der Film dann auch nicht wirkllich so spektakulär, dass er noch drei Monate später so prominent in der Londoner Innenstadt herausgestellt werden müsste. Ein Blick auf die Internet-Präsenz der Veranstaltungszeitschrift „Time Out“ brachte die Erkärung. Hier war „Mustang“ gerade erst vor einer Woche, am 13. Mai, in die Kinos gekommen. Das war am Ende der Woche, in der Sadiq Khan soeben den Amtssitz des Bürgermeisters in der neuen City Hall bezogen hatte. Offenbar wird doch nicht jeder wichtige Film als erstes ins Englische synchronisiert. London ist also doch nicht in jedem Detail metropolenhafter als alle anderen europäischen Städte. Ein kleiner Trostpreis für Berlin, sagte ich mir beim Einschlafen.