Heute morgen erhielt ich einen Anruf von Herrn Broderius. Das fand ich wunderbar. Herr Broderius – sein voller Name lautet Hans-Werner Broderius – ist Inhaber und Koch einer norddeutschen Institution namens „Schleiperle“. Die Schleiperle ist das vielleicht bekannteste, sicherlich aber auch eines der besten Fischrestaurants zwischen Flensburger und Kieler Förde. Ich behaupte: Sie ist obendrein das bemerkenswerteste.
Und das nicht, weil sie das k.o.-Kriterium Nummer 1 für Fischrestaurants – dass der Fisch mindestens ebenso fantastisch schmecken soll, wie ihn die Natur liefert – mit Leichtigkeit passiert.
Dabei ist das, unnötig zu sagen, bei weitem keine Selbstverständlichkeit. Wie viele Male habe ich nicht auch schon in so genannten guten Restaurants zerfallenen, zerkochten, versalzenen, verwürzten ungenießbaren Fisch aufgetragen bekommen? Wie viele Menschen kennt nicht jeder von uns, die aufgrund ihrer schlechten Erfahrungen mit schlechtem Fisch für ihr Leben gezeichnet sind und Fischverächter wurden? Zwei Fragen, die ich nicht beantworten muss, weil ich sie in dem Wissen gestellt habe, dass sie unbeantwortbar sind.
Aber „nicht meckern können“ ist ohnehin kein Kriterium (außer in Berlin als höchste denkbare Auszeichnung). Der Beweis für guten Fisch sind Gaumen und Zunge. Und da muss man sagen: Der Fisch, den es in der Schleiperle gibt, ist einfach lecker.
Meinen Freund Sighart jedenfalls, der es in punkto Bekehrungsresistenz locker mit mir aufnimmt, hat Hans-Werner Broderius fischmäßig vom Saulus fast zum Paulus gemacht. Wiewohl als Fisch-Konvertit unvollendet, traut er sich zum Fischessen inzwischen auch zu anderen Köchen, etwa zu Nils-Norbert Stark im Kappelner Hafen. Er lädt sogar Freunde zum Fischessen ein.
Als Küchenlaie werde ich mich an dieser Stelle nicht zu einer Speisenbeschreibung versteigen, mit der ich mich womöglich wegen falscher Wortwahl der Lächerlichkeit preisgebe und der Schleiperle auch noch Schaden zufüge. Aber mit unbestechlicher Kompetenz kann ich mein eigenes Wohnbefinden beschreiben, wenn ich vor mir das leere, feste Gerippe eines zuvor herrlich gefärbten und mit wenig Butter knusprig gebratenen Goldbutts liegen sehe, zu dem ich ganz risikofrei – wo sonst ist das möglich – Bratkartoffeln bestellt hatte, die so leicht gefettet und so krustig sind, wie sie eigentlich überall sein sollten.
Nachtragen muss ich jetzt: Die Schleiperle liegt in Arnis und ist ein hellblau gestrichenes Holzhaus, das – nach einer Renovierung vor gut zwei Jahrzehnten – auf 57 Pfählen je 18 Meter Länge ruht (so nachzulesen auf der Homepage). Unter dem Gästeraum und unter der Küche bewegt sich die Schlei. Die Schlei ist eine 22 Seemeilen ins Land reichende Ostseebucht. Von Arnis, der nach Einwohnern wie nach Fläche kleinsten Stadt Deutschlands, sind es bis zur Ostsee noch etwa 6 bis 7 Seemeilen. Direkt vor den Fenstern der Schleiperle navigieren die Segelschiffe mit Hilfe der Seebojen landein- oder seewärts durch die enge Fahrrinne.
Rechts des Pfahlbaus befindet sich eine Segelbootwerft, am Steg auf seiner linken Seite dümpeln hölzerne Folkeboote sowie Hans-Werner Broderius‘ eigenes kleines, aus Teak gefertigtes, offenes Motorschiff, die Sitzbank dekoriert mit Champagnerflasche und Stohhut.
Strohgedeckt ist auch ein Haus innerhalb der Reste eines jahrhundertealten Ringwalls, das der Gast auf der gegenüber liegenden, südlichen Schleiseite sieht, die Schwonsburg. So erhält der Spruch „die Augen essen mit“ hier im Restaurant auf dem Wasser einen ganz eigenen, zusätzlichen Sinn.
Stammgast der Perle war ich bereits, bevor Hans-Werner Broderius sie in den späten 70-er Jahren übernahm. Die besondere Art von Labskaus, mit dem seine Eltern dort nach vielen Restaurant-Jahren ihr Abschiedsessen zelebrierten, werde ich nie vergessen. Sie zeigten, dass auch ein solches Hochsee-Reste-Essen klasse schmecken kann (Altertümlich formuliertes Lob? Auch das Rezept war nicht aus Essen & Trinken). Die Eltern hatten das Gebäude – ehedem eine Wartehalle für Dampfschiffe – in den 50-er Jahren übernommen und dort das Restaurant und seinen Ruf begründet.
Schon bald war das Restaurant überregional als neues Detail der alten, durch die Schlei voneinander getrennten, Kulturlandschaften Angeln und Schwansen bekannt. „Kennst du Gunneby? Kennst du die große Eiche neben dem Feuerlöschteich? Kennst du die Schleiperle?“ fragte mich Kollegin Milo Schmidt, als ich 1976 während meiner ersten Arbeitstage als Dokumentar beim Hamburger Verlag Gruner + Jahr von meiner Begeisterung für diese Landschaft erzählte.
Im Winter, wenn die Schlei zufrieren kann, ist das Restaurant geschlossen. Jahrzehntelang war ich einer der Allerersten, die anriefen, um einen der begehrten Tische zur Saisoneröffnung zu reservieren. In manchen Jahren war ich nur einmal dort, in anderen vielleicht drei Mal.
Hans-Werner Broderius gehört nicht zu den Köchen, die sich vor ihren Gästen produzieren. Ich habe mich nur einmal persönlich mit ihm unterhalten, nämich als ich ihn fragte, ob ich bei ihm einen Liegeplatz für ein Folkeboot mieten könnte. Er war einverstanden, aber ich kaufte das Boot dann doch nicht. Seine Ehefrau Rosemarie Broderius kannte mich viel früher von Angesicht als ihr Mann. Da wusste ich noch gar nicht, dass die beiden ein Paar sind.
Aber nachdem ich mich Jahr um Jahr meist bei ihr und meist noch vor Ostern telefonisch mit meinem Tischwunsch meldete, war ich dort irgendwann in den Köpfen gespeichert.
Die schlechte Nachricht zum Schluss.
Das Ehepaar Broderius hört auf. Die Schleiperle erlebt 2016 ihre letzte Saison. Am kommenden Wochenende will ich deshalb dort unbedingt noch einmal essen, mit meiner Frau, mit Sighart und Frau, mit Freunden. Aber als ich gestern diverse Male dort anrief, nahm niemand ab. Heute am frühen Vormittag kam dann der Anruf des Küchenchefs. Ich bedankte mich und wunderte mich. Denn ich hatte keine Nachricht auf Band gesprochen. „Wir wollen doch nicht“, erwiderte Hans-Werner Broderius, „dass andere die letzten freien Plätze vor Ihnen bekommen.“
Welch eine Hommage für die „Schleiperle“! Treffend und verdient! Wegen freitäglicher Verabreichung von grätenreichem Kochfisch in der Jugendzeit zum Fischmuffel erzogen, habe ich erst als Erwachsener in der „Schleiperle“ in Arnis zum Fischgenuss gefunden. Empfehle „Filet – Filet“! Schade, dass die Ära Broderius endet.
Sighart Leifert