In meinem Bauch macht sich ein drei Jahrzehnte alter Grimm bemerkbar. Geweckt hat ihn der Europäische Gerichtshof mit einer Entscheidung über fehlerhafte Herzschrittmacher. Der Richterspruch geht mir nahe.Das vorgestern (5. März 2015) gesprochene Urteil vereinheitlicht die Herstellerhaftung innerhalb der EU auf hohem Niveau (C-503/13 und C-504/13). Es geht um die Kosten ärztliche Eingriffe zum Austausch eines Herzschrittmachers durch ein Ersatzgerät. Das Urteil lässt den Hersteller selbst dann für diese Kosten haften, wenn nicht das konkrete Gerät, sondern vergleichbare Geräte identischer Bauart unsicher sind. Ohne die Feinheiten der Entscheidung beurteilen zu können, empfinde ich sie als gut.
Meinem 1980 verwitweten Vater, Woldemar Lein, wurde Ende 1984 im niedersächsischen Oldenburg ein Herzschrittmacher implantiert. Als er das Krankenhaus verließ, war er froh und kam in Anbetracht seiner fast 75 Lebensjahre überraschend schnell wieder zu Kräften. Er fasste neuen Lebensmut, fühte sich fit und meinte, noch einige weitere Jahre vor sich zu haben. Er wollte wieder heiraten und erzählte mir von seiner Favoritin.
Wenige Wochen später kehrten die Herzrhythmusstörungen zurück. Der Schrittmacher hatte aufgehört zu arbeiten. Mein Vater musste sich erneut operieren lassen. Der alte Schrittmacher wurde entfernt, ein neuer wurde implantiert. Es stellte sich heraus: Die Batterie des alten Herzschrittmachers hatte keinen Strom mehr geliefert. Sie war leer.
Solche Operationen waren damals bei weitem noch nicht so minimalinvasiv wie heute. Die zweite Operation in kurzer Folge schwächte meinen Vater nachhaltig.
Im Dezember 1985 heirateten meine Frau und ich in Kappeln an der Schlei. Auf dem Rückweg von unserer Hochzeit, im Intercity von Bremen nach Oldenburg, blieb das Herz meines Vater stehen.
Nach der zweiten Operation hatte ich mit ihm über den 1979 bekannt gewordenen Schrittmacher-Skandal gesprochen. In zahlreichen westdeutschen Krankenhäusern hatten Ärzte Verstorbenen unerlaubt Herzschrittmacher entnommen und sie dann unter der Hand weiterverkauft oder anderen Patienten ohne deren Wissen als Neuprodukte implantiert. Fast immer mussten sie dazu die Krankenakten manipulieren.
Ich äußerte meinem Vater gegenüber den Verdacht, dass diese lukrative Praxis auch nach ihrer Aufdeckung fortgesetzt worden war. Ich sagte ihm, es sei doch nach menschlichem Ermessen fast ausgeschlossen, dass eine Schrittmacher-Batterie unmittelbar nach der Implantation ausfällt, wenn das Krankenhaus das Gerät in ungeöffnetem Zustand fabrikneu erhalten hätte. Ich erzählte ihm auch von meiner Absicht, die Staatsanwaltschaft von seinem Fall zu unterrichten.
Mein Vater forderte mich sehr entschieden auf, das zu unterlassen. Er sagte mir sinngemäß: ‚Das ist meine Angelegenheit. Ich habe mit dem Arzt, der die Operation durchgeführt hat, ein offenes Gespräch geführt. Du weißt, ich bin evangelischer Geistlicher. Ich fühle mich dem Gedanken der Vergebung verpflichtet. Das musst Du respektieren.‘
Wir sprachen lange darüber. Vergeblich versuchte ich, ihn von dieser Haltung abzubringen. Ich sagte ihm: ‚Hätte nur ein technisches Versagen eines fabrikneuen Geräts vorgelegen, hätte der Arzt oder das Krankenhaus dem Hersteller ein Alarmscheiben geschickt. Das Krankenhaus hätte Dir bei Eurem Gespräch mit Sicherheit davon berichtet. Es hätte Dir von sich aus eine Kopie des Schreibens überlassen.‘
Mein Vater ließ sich nicht umstimmen. Er hatte in dieser Stadt fünfzehn Jahre als Pastor gearbeitet. Oft hatte er, meist gemeinsam mit unserer Mutter, Kranke auch in der Klinik besucht, in der er nun selbst zweimal operiert worden war. Solange wir klein waren, hatten unsere Eltern oft auch meinen älteren Bruder Gerhard und mich mit zu solchen Krankenbesuchen genommen. Mein Vater kannte mehrere der Ärzte aus dieser Zeit noch persönlich.
Er hatte von dem Gespräch mit mir auch seiner ebenfalls tief gläubigen Schwester erzählt. Mit ihr verband ihn ein enges Verhältnis. In Absprache mit ihr telefonierte ich nach dem Tod meines Vaters mit dem operierenden Arzt und sprach ihn freimütig auf meinen Verdacht an. Er stritt vehement ab, meinem Vater etwas anderes als einen fabrikneuen Schrittmacher implantiert zu haben. Erneut wollte ich die Sache von der Staatsanwaltschaft klären lassen. Aber die Schwester meines Vaters verlangte dann von mir, so weit nicht zu gehen, sondern den Willen meines Vaters auch nach seinem Tod zu achten. Ich hielt mich daran – sehr, sehr ungerne.
Ich hatte meinen Vater immer hoch geachtet. Ich hatte ihn in mehreren wichtigen Lebensentscheidungen zu Rate gezogen. Mein Bruder und ich führten bis zum Schluss viele Gespräche mit ihm, über Politik und Religion. Er hatte unsere agnostischen Einstellungen toleriert, obwohl sie ihn schmerzten. Als ich am Donnerstag die Pressemitteilung des EuGH mit dem Schrittmacher-Urteil erhielt, war die ganze alte Bitternis wieder da.