„Willingshausen ist ein historisches Künstlerdorf und beherbergte einmal die älteste Malerkolonie Europas“, begrüßte Ulli Becker-Dippel ihre mindestens zwei Dutzend Festgäste. Ulli hatte einen guten Grund, den angereisten Verwandten klarzumachen, auf welchem bedeutungsvollen Flecken des nordhessischen Schwalmkreises sie sich befanden. Denn die Gäste, die sie gemeinsam mit ihrem Gatten bewirtete, waren aus einem ganz anderen Grund hier: um die Taufe von Ullis Enkelin Anika Lou zu feiern – meiner Großnichte 2. Grades.
Die Besonderheit des Orts war uns aber bereits am Vortag klar geworden. Da hatten wir gemeinsam mit Norbert Reitz, dem väterlich-seitigen Großvater des Täuflings, eine Spontanführung durch das Gerhardt-von-Reutern-Haus erhalten.
Der Namensgeber des Gebäudes und Gründervater der Kolonie war ein 1813 bei der Völkerschlacht in Leipzig verwundeter und deshalb einarmiger Balte gewesen. Er hatte sich das Malen hier in Willingshausen (zunächst) ohne fremde Anleitung beigebracht.
Johann Wolfgang von Goethe hatte ihm nach Begutachtung einiger Aquarelle quasi angeraten, das Malen zum Beruf zu machen. Tatsächlich nennt auch Wikipedia die von diesem Autodidakten begründete Willingshäuser Malerkolonie die „älteste Künstlervereinigung” Europas. Das war neu für mich, hätte es aber nicht sein müssen. Denn auch ich habe aufgrund eigener nordhessischer Vorfahren und Verwandter eine enge persönliche Bindung an die Region. Nicht zuletzt deshalb war ich ja auch gekommen.
Als Gründungsjahr der Malerkolonie gilt 1824, als Reutern dem Kasseler Kunstprofessor Ludwig Emil Grimm begegnete, dem jüngeren Bruder der ungleich berühmteren zwei „Gebrüder Grimm”, Jacob und Wilhelm. Sie wurden bekanntlich durch ihre im nordhessischen Kassel aufgeschriebenen Märchensammlungen berühmt. Ihr eigentliches Ansehen verdanken sie aber ihren revolutionären Beiträgen zur Sprachforschung.
Dass der andere Grimm-Bruder dazu beigetragen hatte, aus Willingshausen ein Zentrum der neuen Landschafts- und Genremalerei zu machen, wissen aber immerhin kundige Kulturwissenschaftler. Das hiesige „Zusammentreffen und Austauschen” der Künstler Reutern und Grimm war „zugleich der Anfang der Freiluftmalerei in der Kunstgeschichte”, steht in einem offensichtlich sehr kundig geschriebenen Wikipedia-Artikel (Stand Februar 2017). Auch die Volks- und Sprachkundler Jacob und Wilhelm Grimm besuchten Willingshausen immer wieder einmal und trafen dort den jüngeren Bruder mit dem älteren Professorentitel.
Allen dreien war das Interesse am „einfachen Volk” gemein, in allen drei Fällen war das Interesse revolutionär: Den einen ging es um die Überlieferung von Erzählungen und von Sprache, dem anderen um die Darstellung der einfachen Menschen in ihrer angestammten Kleidung („Tracht”) und Landschaft. Alle drei befassten sich deshalb auch mit der Dorothea Viehmann. Für den einen war sie ein lohnendes Malobjekt. Für die beiden anderen war sie die unerschöpfliche Märchenerzählerin.
Überregionale Bedeutung gewann die Malerkolonie, nachdem der deutsche Adel die Frankfurter Nationalversammlung 1849 staatsstreichartig entmachtet hatte. Demokraten mussten vielfach flüchten. Einheimische Künstler suchten neue Orientierungen. Einige Maler quartierten sich jetzt hier im Willingshäuser Wirtshaus Haase ein, dem heutigen Gerhardt-von-Reutern-Haus. Es wurde zu einer Art künstlerischem Kommunikationszentrum. Heute befindet sich hier auch das aus zwei Räumen bestehende „Museum Malerstübchen”, das wir gerade besichtigt hatten. Besonders gut gefiel mir hier ein Gemälde, das die damalige abendliche Freizeitbeschäftigung der Künstler (Singen und Trinken) in ebendiesen Räumen wunderbar karikiert (siehe Bild ganz oben).
Dass mein Neffe Oliver und seine Freundin Katharina die Taufe ihrer Tochter ausgerechnet hier zelebrierten, hatte vorrangig damit zu tun, dass Katharinas Familie seit Generationen in Willingshausen verwurzelt ist. Aber auch Oliver hatte starke Motive, seine eigene Verwandtschaft hier zu versammeln. Zum einen, weil Karl Muhl, sein Urgroßvater, aus der Nachbarortschaft Schrecksbach stammte. Zum anderen aber hatte das mit den nach Nordhessen eingewanderten Hugenotten zu tun. Von ihnen stammen wir gemeinsam ab. Insgesamt war die Ortswahl deshalb eine ausgezeichnete Idee.
Die Mitglieder unserer Ahnenfamilie Aillaud hatten sich 1687 knapp 30 Kilometer von hier als protestantisch-reformierte Glaubensflüchtlinge aus Frankreich niedergelassen und sich an der Gründung der Siedlung Schwabendorf beteiligt.
Direkt zuvor, am 18. Oktober 1685, hatte der katholische „Sonnenkönig” Ludwig XIV. das neunzig Jahre bestehende Toleranz-Edikt von Nantes widerrufen und vom Schloss Fauntainebleu aus seinem Land eine neue Leitkultur verordnet: une foi, une loi, un roi – ein Glaube, ein Gesetz, ein König. Seine evangelischen Untertanen beraubt er jetzt sämtlicher bürgerlicher und religiöser Rechte. Wer weiter protestantisch predigt oder unterrichtet, dem droht die Galeerenstrafe. Evangelische Gotteshäuser sind zu verbrennen.
In der Familienüberlieferung lebt die Schilderung der damaligen dramatischen Fluchtumstände bis heute fort. (Vater, Mutter, sieben Kinder am Flussufer. Nur der Vater kann schwimmen. Als er auch das letzte der Kinder über das Wasser in Sicherheit gebracht hat, tauchen am anderen Ufer die Reiter auf.) Das war wohl auch der Grund, aus dem mich die, einen Schergen Ludwigs XIV. beschreibende, Folter- und Vergebungsballade „Die Füße im Feuer” von Conrad Ferdinand Meyer als Schüler manchmal bis in die Nacht beschäftigte.
Der hugenottisch-hessische Teil unserer Familiengeschichte war dann natürlich nicht der einzigen Gegenstand der Gespräche beim Familienfest in Willingshausen. Ein anderer war zum Beispiel, dass Anika Lou im vergangenen Mai ausgerechnet an dem Tag das Licht der Welt erblickt hatte, an dem ihr Großvater Norbert in London zusammen mit mir meinen eigenen Geburtstag feierte. Norberts in England lebende Schwester Marie-Louise (Marlies) war in London dabei gewesen. In Willingshausen wurde sie schmerzlich vermisst.
Gerade Norbert weiß viel über unsere hugenottischen Vorfahren zu berichten – und vor allem auch, wem unsere Ahnen das Ende ihrer Flucht und ihre Aufnahme in Hessen-Kassel verdanken: dem nordhessischen Landgrafen Karl (Regierungszeit 1670 bis 1730). Der hatte – im Verhältnis zur Bevölkerungszahl – weit mehr französische Flüchtlinge als jeder andere deutsche Herrscher ins Land gelassen. Er unterstützte sie wirtschaftlich, sicherte ihnen Glaubensfreiheit zu, erlaubte französischsprachige Kirchen und Schulen. Sein Nachfolger Landgraf Friedrich I. (1730 bis 1751; durch Heirat zugleich König von Schweden) setzte diesen Weg fort.
Auch Dorothea Viehmann, die nordhessische „Märchenerzählerin” der Gebrüder Grimm, war Hugenottin. Sie war gebildet. Sie sprach deutsch und französisch, konnte auf französisch sogar korrespondieren. Sie kannte viele französischen Märchen. Die Gebrüder Grimm wussten das. Aber sie verbogen sie Wahrheit. Sie behaupteten, Viehmann wäre eine einfache, ungebildete Bäuerin. Das verkaufte sich besser und beflügelte ihre Karriere. Auch das war Thema in Willingshausen und fand seinen aktuellen Bezugspunkt bei den Fake-News des gerade inaugurierten US-Präsidenten Donald Trump.
Eine der aufblühenden neuen nordhessischen Hugenottensiedlungen in der Nähe von Kassel benannte sich zu Ehren des neuen nordhessischen Landgrafen und schwedischen Königs Friedrichsdorf. Sie ist heute ein Ortsteil von Hofgeismar. Hier wuchs auch meine Großmutter Louise Aillaud auf.
Sie brachte eine ansehnliche Mitgift in die Ehe mit dem Kasseler Unternehmensgründer Adam Reitz ein, meinem Großvater und Olivers Urgroßvater. Noch vor dem 1. Weltkrieg bauten die beiden eine Art Handelsschule und eine Schreibmaschinenhandlung auf. Die Schule unterrichtete (unter anderem) Stenographie und Hochgewindigkeitsschreiben („zehn-Finger-blind”) auf der Schreibmaschine. Außenstellen bis hin ins westfälische Warburg bestanden bis in die 60-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.
Das erste gemeinsame und auch deutlich älteste Kind Elisabeth (genannt „Ellebeth”) wurde 1898 in Kassel geboren. Sie erwarb ihr Abitur noch vor dem 1. Weltkrieg. Aber der Vater Adam war ein, wie man damals sagte, „Switjee”, ein Bruder Leichtfuß. Von der Mitgift kaufte er einen Vierspänner zum Repräsentieren, unter anderem, um – angeblich als erster – Kaiser Wilhelm III. funktionierende Schreibmaschinen zu präsentieren. Er glaubte an den ganz großen Auftritt und das ganz große Geschäft. Der Auftritt – auch beim Kaiser – gelang. Der Familiensaga zufolge verkaufte Adam Schreibmaschinen sogar an mindestens ein Königshaus auf dem Balkan, Bulgarien oder – vielleicht auch und – Rumänien. Das große Geschäft blieb trotzdem aus.
Adam ließ die Familie im Stich und blieb mit dem, was vom Geld und vom Vierspänner übrig war, in Berlin. Louise führte das Unternehmen ohne ihn fort. Die drei Kinder Ellebeth, Carl und Käthe (meine Mutter) mussten nach der Schule im Geschäft mitarbeiten. Das war hart, und das Geld war knapp. Olivers Großvater Carl konnte noch sein Abitur ablegen. Bei der Jüngsten fehlten schließlich die Mittel für die Kleidung. Kein Wunder, dass mein Bruder und ich unsere Mutter von frühester Kindheit an als entschiedene Frauenrechtlerin erlebten.
Über Adams Leben während des 1. Weltkriegs weiß niemand aus der Famile etwas. Jahre nach der Trennung kam er in Berlin ums Leben. Er wurde vorgeblich aus einem Kraftfahrzeug gestoßen. Mit gebrochener Schädeldecke lag er im Krankenhaus. Louise wurde davon unterrichtet. Sie verstand sich weiterhin als Adams Frau und fuhr von Kassel nach Berlin zu ihm ans Sterbebett. Am 4. November 1926 starb er, wie ich jetzt von Norbert erfuhr.
Wenn es um den Tod ihres Mannes ging, sei ihre Mutter immer von Fremdverschulden ausgegangen, sagte mir meine Mutter.
Wie sehr Louise das für eine gesicherte Tatsache hielt, beleuchtet ein absurdes Detail, von dem mir meine Mutter erzählte. Auf den ersten Blick erscheint die Geschichte viel zu lächerlich, um sie heutzutage überhaupt noch wiederzugeben. Aber sie beleuchtet ein Denken, das damals tatsächlich noch existierte.
Also: Meine Großmutter, so berichtete meine Mutter, habe wegen des gewaltsamen Todes ihres Mannes um ein göttliches Zeichen gebetet: „Lieber Gott, lass demjengen, der das getan hat, die linke Hand verdorren.“ Ein halbes Jahr später sei ein entfernter Verwandter gekommen, Vetter Franz. Der hatte plötzlich eine gelähmte linke Hand. Louise habe immer nur auf diese Hand gestarrt und sei nicht in der Lage gewesen, normal mit dem Vetter umzugehen. Louise hätte gewusst, dass ihr Verdacht nur falsch gewesen sein könnte. Franz war nie in Berlin gewesen. Aber, so meine Mutter, Louise hätte sich nicht von ihrer Irritation lösen können.
Für mich war diese Geschichte, die meine Mutter nicht nur einmal wiederholte, immer schrecklich unwirklich. Meine Mutter erzählte sie, trotz ihrer großen Liebe zur eigenen Mutter, mit spürbarer Distanz. Sie selbst war gläubige Christin gewesen, ohne den geringsten Hang zum Aberglauben. Sie hielt die Geschichte einfach deshalb für erzählenswert, weil sie sich so ereignet hatte. Und ich gab die kuriose Erzähung jetzt in Willingshausen gerne wieder zum besten.
Carl Reitz, Olivers Großvater und Norberts Vater, hatte das Unternehmen nach dem 2. Weltkrieg gemeinsam mit seiner Frau Elisabeth, Tochter von Karl Muhl aus dem hier benachbarten Schrecksbach, wieder neu aufbauen müssen. Carls Elternhaus im Grünen Weg 22 war in der Kasseler Bombennacht vom 22. auf den 23. Oktober 1943 mit der gesamten Innenstadt in Flammen aufgegangen. Opfer der Flammen wurden in dieser Nacht rund 7000 Einwohner. Aber auch die 600 handgetippten Manuskriptseiten eines Romans, den meine Mutter dort gerade beendet hatte.
Einiges über diese dramatische Nacht ist in einem jetzt erschienenen vorwiegend autobiografischen Buch nachzulesen, in dem Norbert von seinen Internet-Erfahrungen, aber auch aus seiner Jugend berichtet (Norbert Reitz: „Klärchen bekommt ein Gesicht”). Darin schilderte er auch die Umstände seines eigenen Entkommens aus der lichterloh brennenden Stadt im Kinderwagen, den meine Mutter schob, während sein Vater sich mitten in dieser nächtlichen Hölle erfolgreich auf die Suche nach seiner Ehefrau und den beiden älteren Geschwistern Joachim und Marlies machte.
Das Buch enthält auch ein Kapitel über die abenteuerliche Nahostreise, die wir 1969 unternahmen und die uns direkt nach dem Putsch von Muammar al-Gaddafi bis fast an die lybisch-ägyptische Grenze führte.
Vor allem ist in dem Buch aber auch von Norberts Patenonkel August Aillaud zu lesen. Das war der deutlich jüngere Halbbruder unserer Großmutter Louise. Der reformierte Theologe, Geistliche und Hugenotten-Nachfahre stammte ebenfalls aus dem nordhessischen Friederichsdorf. Wie seine Vorfahren aus Frankreich emigrierte er aus Nazi-Deutschland. Er erlernte eine neue Sprache, das Dänische. Er wurde dann Gemeindepastor in Fredericia am Kleinen Belt (benannt nach Frederick III., König von Dänemark und Norwegen, 1648 – 1670). Fredericia wurde bald nach seiner Gründung (1650) einer der zwei dänischen Flüchtlingsstandorte für Hugenotten. Der andere war Kopenhagen.
Eine Verrücktheit der Geschichte: Mein eigener Vater, der evangelische Pastor Woldemar Lein, wurde im Sommer 1944 als Soldat für Fernmeldetechnik aus Russland nach Dänemark versetzt. Und dort nicht irgendwo hin, sondern ausgerechnet in die Hugenottenstadt Fredericia. Dorthin, wo der jüngste Bruder seiner Schwiegermutter Pastor war.
Nach Russland war er gerade zuvor erst mit bangem Herzen aus dem Heimaturlaub in Hessen zurückgekehrt. In einem Dorf rund 50 Kilometer von Willingshausen entfernt, hatte er seine ausgebombte und bei Verwandten aufgenommene Frau getroffen und zum ersten Mal auch seinen Anfang Mai geborenen ersten Sohn, meinen Bruder Gerhard.
Auf dem Rückweg Richtung Front hatte er, wo immer er konnte, Glaubensbrüder aufgesucht und gebetet. Hätte er in Russland bleiben müssen, wären ihm Gefangenschaft oder Tod ziemlich sicher gewesen. Mich selbst hätte es dann nicht gegeben. Seine Abkommandierung nach Fredericia unmittelbar nach der Rückmeldung bei der Truppe blieb für ihn und für seine Frau zeitlebens ein Mysterium, eine Gebetserhörung. Für mich bleibt sie ein Mysterium.
Auf dem Rückweg von Willingshausen waren wir alle tief in Gedanken. Meine Frau und ich mussten zurück nach Berlin, mein Bruder und seine Frau nach Hamburg, all die anderen zu ihren eigenen Zielen. Aber Norbert fuhr erst noch einmal ins nahe Schwabendorf.