Wir fuhren gestern nach Hamburg, um in der Nikolai-Kirche am Harvestehuder Weg die Johannespassion von Johann Sebastian Bach (zum wievielten Male?) zu hören. Wir taten es der Musik wegen und wegen der Freunde, die mitsangen. Und wir taten es trotz der Texte. Ungewöhnlich war dann aber das Programmheft. Ein Artikel darin befasst sich mit „den“ Juden in Bachs Johannes-Passion.
Der Chor – die Kantorei St. Nikiolai – und das ebenfalls vom Dirigenten Matthias Hoffmann-Borggrefe geleitete Kammerorchester Hamburger Camerata schafften es gemeinsam mit dem bestechenden Tenor Johannes Gaubitz (Evangelist), den Bässen Konstantin Heintel (Jesus) und Jonathan de la Paz Zaens, dem Sopran Frederike Adamski und dem Alt Yvi Jänicke, dass mich die Passion emotional wieder einmal stärker beanspruchte, als ich wollte. Mehrfach hatte ich Tränen in den Augen. Und wie ich erstaunt feststellte, ging auch es dem Jugendlichen neben mir so.
Unglaubwürdige biblische Berichte
Rational lehne ich Bachs Matthäus- und Johannes-Passionen ab. Denn ich finde die zugrunde liegenden Textstellen der Matthäus- und Johannes-Evangelien schlimm. Ich vermute, dass die Autoren der beiden Passionsgeschichten wussten, dass sie logen, als sie ihre diffamierenden Behauptungen über „die“ Juden und deren Verhalten im Zusammenhang mit der Kreuzigung niederschrieben. Es musste ihnen klar sein, dass ihre Verallgemeinerungen nicht stimmen konnten.
Ich habe vor unserer Abfahrt die Kapitel 18 und 19 des Johannes-Evangeliums noch einmal in der auch von Bach verwendeten Luther-Übersetzung gelesen. Dort steht: „Die“ Juden – nicht ein paar wildgewordene Fanatiker aus dem Volk, sondern sie alle – „schrien: Weg mit ihm, kreuzige ihn!“ Noch böswilliger ist die im Matthäus-Evangelium „bezeugte“ Behauptung: „Da rief das ganze Volk: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“
„Die Juden“, beziehungsweise „Das ganze Volk“ sagen die Evangelisten. Wieviele der im damaligen Palästina lebenden Jüdinnen und Juden mögen sich während der Passions-Ereignisse vor dem Jerusalemer Prätorium eingefunden haben? Von welchem Anteil der Bevölkerung lässt sich unterstellen, dass ihre Stimmung innerhalb weniger Tage von „Hosianna dem Sohn Davids“ zu „kreuziget ihn“ gekippt war? Es kann nur ein Bruchteil derer vor Ort gewesen sein, welche das so genannte Alte Testament zuvor als das „Volk Israel“ bezeichnete hatte. Die Evangelien unterstellen ihnen allen eine Kollektivschuld.
Kann (und darf) man eine Musik mit Genuss anhören, die mit höchster kompositorischer Finesse und deshalb geradezu hetzerisch einer ganze Ethnie eine Mordabsicht gegen Jesus und die Durchsetzung dieses Vorsatzes gegen den erklärten Willen der römischen Obrigkeit andichtet?
Man schaudert innerlich beim Zuhören. Nicht zuletzt über sich selbst. Denn das Gefühl der Rührung, das Empfinden etwas unerhört Großes und Schönes zu hören, bleibt trotzdem während der ganzen Aufführung bestehen.
Hier liegt schließlich ein Musterbeweis dafür vor, dass sich auch mit Musik lügen lässt – gerade auch, weil der Komponist die wahrheitswidrigen Texte selbst offensichtlich für wahr hielt und in Szene setzte.
Aber muss es sein, dass Kirchgemeinden die Johannes-und Matthäus-Passionen ausgerechnet am Karfreitag aufführen lassen und so den Anschein erwecken, Christen hielten diese Texte auch heute noch eins zu eins für wahr? Ich fände jeden x-beliebigen anderen Tag angemessener.
Diesmal hatte der Chorleiter aber dafür gesorgt, dass sich im Programmheft zu dieser Fragestellung ein kritischer Aufsatz des emeritierten evangelischen Theologieprofessors Johann Michael Schmidt (Bonn) findet. Er problematisiert die biblischen Originaltexte ebenso wie ihre musikalische und textliche Verarbeitung durch Bach. Allerdings billigt auch dieser Aufsatz den Matthäus- und Johannes-Evangelisten mehr mildernde Umstände zu, als ihnen m. E. zukommen.
Wir sprachen nach dem Konzert noch lange mit zwei mit uns befreundeten Chorsängerinnen. Wir stellten fest, dass dieser Aufsatz und seine Thesen dem Chor weder bekannt gemacht noch im Chor diskutiert worden waren. Schade. Das erweckt dann doch den Eindruck, dass die Publikation des Aufsatzes eher eine lästige Pflichtübung im Lande des Judenmords war. Dass sie nicht wirklich dem Bedürfnis entsprang, sich gemeinsam mit den anderen Aufführenden mit diesem Spannungsverhältnis zwischen einer bewegenden Musik und einem beklemmenden Text zu befassen.
Aber dann: Meine Kritik trifft am meisten mich selbst. Denn ich bin schließlich mit dem Auto viele Kilometer nach Hamburg gefahren, um mich in die Nikolaikirche zu setzen und mich von der Johannes-Passion emotional gefangen nehmen zu lassen. Und ich tat es, obwohl es Karfreitag war.
Ich tat es aber auch in dem Wissen, dass dieses musikalische Weltkulturerbe uns Zweiflern und Ungläubigen ebenfalls gehört.
P.S. Der Text enthält einige (nicht inhaltliche, aber klarstellende) Korrekturen, aufgrund des Nachlesens vier Jahre später im Juni 2019.