Notabeln-Erklärung

Theodor Mommsen
Theodor Mommsen (1817 – 1903), Jurist, Historiker, 1880 maßgeblicher Autor der Notabeln-Erklärung, 1902 Träger des Literaturnobelpreises. Portrait von Franz Lenbach (1897)

Beinahe hätte ich eine kleine Notiz übersehen, die ich vor -zig Jahren für den heutigen Tag in meinen elektronischen Kalender eingefügt hatte. Eben fiel sie mir doch noch auf. Heute vor 50.000 Tagen war der 12. November 1880. An diesem Tag veröffentlichte eine Gruppe aus 75 renommierten und aufgeklärten Berlinern (damals bezeichnete man Prominente als „Notabeln”) um den Historiker Theodor Mommsen, den Mediziner und Politiker Rudolf Virchow und den Berliner Oberbürgermeister Max von Forckenbeck die Notabeln-Erklärung, einen eindringlichen Aufruf gegen den damals neu durch Deutschland wabernden Antisemitismus. Das ist Anlass genug, sich den Wortlaut heute noch einmal anzusehen. Der Text dieses Aufrufs ist weitsichtig und anrührend. Mehr als 50 Jahre bevor eine terroristische antisemitische Vereinigung in Deutschland die Herrschaft errang, heißt es darin:

Wie eine ansteckende Seuche droht die Wiederbelebung eines alten Wahnes die Verhältnisse zu vergiften, die in Staat und Gemeinde, in Gesellschaft und Familie Christen und Juden auf dem Boden der Toleranz verbunden haben. Wenn jetzt von den Führern dieser Bewegung der Neid und die Mißgunst nur abstrakt gepredigt werden, so wird die Masse nicht säumen, aus jenem Gerede die praktischen Konsequenzen zu ziehen. … Noch ist es Zeit, der Verwirrung entgegenzutreten und nationale Schmach abzuwenden; noch kann die künstlich angefachte Leidenschaft der Menge gebrochen werden durch den Widerstand besonnener Männer. Unser Ruf geht an die Christen aller Parteien, denen die Religion die frohe Botschaft vom Frieden ist; unser Ruf ergeht an alle Deutschen, welchen das ideale Erbe ihrer großen Fürsten, Denker und Dichter am Herzen liegt. Vertheidiget in öffentlicher Erklärung und ruhiger Belehrung den Boden unseres gemeinsamen Lebens: Achtung jedes Bekenntnisses, gleiches Recht, gleiche Sonne im Wettkampf, gleiche Anerkennung tüchtigen Strebens für Christen und Juden.

Wenn ich mir diesen Text annähernd 140 Jahre nach seiner Veröffentlichung anschaue, muss ich einfach seufzen. Seit der Bundestagswahl vor zwei Wochen sitzen erstmals wieder Menschen in unserem Parlament, die mit der Ausgrenzung anderer Religionen und Herkünfte nicht nur billigen Beifall erzielen, sondern auch Wahlkreise gewinnen. Das ist, mit Verlaub, Scheiße. Aber diesmal werden sie trotzdem nicht siegen.