Dieses Jahr begann meine Sommerreise spät und dauerte nur sechs Wochen. Zwei davon verbrachte ich gemeinsam mit meiner Frau und teilweise zwei Freunden. Abfahrt war am 20. August. Morgens erledigte ich zunächst noch das Upgrade auf Windows 10. Mittags trug ich meine Utensilien in unseren BMW Touring 318i, stoppte kurz am Schiffbauerdamm, um meine letzte Post abzuholen, parkte für ein Abschiedsfoto an der Siegessäule und steuerte das Auto schließlich auf die BAB 115. Fahrtziel: Italien. Erstes Etappenziel: Bayern.
Eine kleine Pause hatte ich für diesen Tag noch in Dessau eingeplant. Dort gab es eine BMW-Werkstadt, die bereit war, ohne viel Bürokratie den Beifahrer-Airbag im Rahmen einer BMW-Rückrufaktion auszutauschen. Alle anderen BMW-Niederlassungen in Berlin und sonstwo hatten sich dazu nur unter der Bedingung bereitfinden wollen, dass wir ihnen zahlreiche private Daten überließen. Das kam nicht infrage.
Auf der Autobahn gab es einen Stau, und ich erreichte die Dessauer Werkstatt erst nach Dienstschluss. Daraufhin blieb ich in der Gegend und schlug das kleinere meiner beiden Zelte – eine Art Regenschirm mit Fußboden – auf einem Campgingplatz am Elbufer des nahen Städtchens Coswig auf.
Früh morgens klappte ich das Zelt wieder zusammen, war kurz nach sieben in der Werkstatt und um acht mit neuem Airbag zurück auf der A9.
Nach einer gewissen Fahrtstrecke horchte ich in mich hinein. Wo blieb die Urlaubsstimmung? Sie ließ auf sich warten. Erstaunlich.
Wenn ich meinen festen Wohnsitz mit dem Auto in Richtung Süden verlasse, stellt sich bei mir seit Jugendtagen eigentlich ziemlich zuverlässig Vorfreude ein. Das gilt jedenfalls dann, wenn die Reise mehr als ein paar Tage dauern soll und ohne beruflichen Zwang erfolgt.
Ich rief mir, wie ich es auf solchen Reisen gerne tue, in Erinnerung, woher dieses Glücksgefühl, wenn es kommt, kommt. Erstmals empfand ich es auf diese Weise zu Beginn der sommerlichen Schulferien 1967. Damals lebte ich in Hamburg und wollte nach Frankreich. Ich hatte meine Reisetasche geschultert – Rucksäcke waren verpönt – und die Norderlebe über die Neue Elbbrücke mit ihren grau gestrichenen Fischbauch-Trägern (Foto) am Morgen zu Fuß überquert.
Jenseits der Brücke befindet sich auch heute noch die Einfahrt auf die damals einzige Hamburger Autobahn in alle südlichen und südwestlichen Richtungen. Keine südwärts führende Stelle ganz Hamburgs eignete sich besser für den Auto-Stopp mittels ausgestrecktem Arm und in Fahrtrichtung deutendem Daumen. Natürlich war es Fahrzeugen und Fußgängern auch damals schon untersagt, ohne berechtigten Grund am Autobahn-Rand zu stehen. Ein freigetretener und -gefahrener Sandstreifen neben den ersten rund 50 Fahrbahn-Metern bewies aber, dass sich nicht alle Menschen von dem Verbot abschrecken ließen. Das galt auch für mich.
Ich hatte bereits tausende Kilometern per Anhalter zurückgelegt und entsprechende Erfahrung. Im Vorjahr etwa war ich „thumbing lifts“ durch England und Schottland gereist. Mir war also klar, dass die Polizei ihren Verboten an solchen Stellen durchaus Nachdruck zu verleihen wusste. Auch diesen Abschnitt fuhren die Polizeiautos oft an. Die Beamten stiegen aus und ermahnten die Tramper zunächst ernsthaft, die Autobahn zu verlassen. Für alle, die einem Polizisten danach an derselben Stelle erneut auffielen, konnte das dann empfindlich ins Reisebudget gehen. So weit wollte ich es für mich nicht kommen lassen. Ich durfte mein Glück nur herausfordern, wenn ich Grund für die Annahme hatte, dass alles sehr schnell gehen würde und ich es nicht auf eine Wiederholung würde ankommen lassen müssen. Ich glaubte, einen solchen Grund zu haben.
Um möglichst schnell einen ‚Lift‘ zu bekommen, hatte ich mich äußerlich und innerlich gut vorbereitet: frisch gewaschene Haare, helle Hose mit Dauer-Bügelfalte, freundlicher Blick. Trotzdem befielen mich bei meiner Ankunft Selbstzweifel. Unter den vielen Konkurrenten, die ihre Daumen in Richtung Fahrbahn streckten, befanden sich mehrere Pärchen. Der männliche Part stand oft ein paar Schritte abseits und kam erst hinzu, wenn ein Auto für die Freundin stoppte. Er wurde dann aber, soweit ich das beobachten konnte, nie abgewiesen. Nachdem der Trick vor meinen Augen mehrere Male funktioniert hatte und die Zeit verrann, setzte ich mich von dem Pulk ab und lief weiter in Richtung offene Autobahn. Zwar stieg das Polizei-Risiko für mich und für eventuell stoppende Fahrzeuge dadurch massiv an. Aber andererseits sank dadurch die Wahrscheinlichkeit, dass die Polizei auftauchte, bevor ich ein Auto bestiegen hätte. Bald hielt ein Pkw an und nahm mich auf. Auch die Anschluss-Lifts auf den weiteren Autobahn-Raststätten folgten an diesem Tag mehrfach aufeinander wie am Schnürchen. Das Etappenziel Paris, Cartier Latin, rue de Vaugirard N° 95, kam näher. Ich war aufgeregt und glücklich.
Es wurde eine grandiose fünfwöchige Ferienreise, abenteuerlich, traumhaft, lehrreich und voller verrückter Details. Das meiste von dem, was auf dieser Reise geschah, blieb mir aus einem einfachen Grunde stets plastisch in Erinnerung: Ich erzählte nach der Rückkehr alles überschwänglich und aus frischer Erinnerung meinen Klassenkameraden und allen meinen Freunden. Vieles wiederholte ich auch später noch oft. Erzählen hält Erinnerungen frisch. Natürlich, es verklärt und verändert sie auch. Aber damit lässt sich leben.
Ich bin immer auch gerne in den Norden gefahren und hänge keinesweg am Auto. Aber diese besondere fast automatische innere Vermutung „jetzt beginnt einen schöne Zeit“ entsteht bei mir merkwürdigerweise am Beginn von Autobahnfahrten in Richtung Süden.
Aber an diesem 21. August war mein Kopf gefüllt mit anderen Überlegungen, und der Alltag ließ mich nicht los. Als ein Schild darauf hinwies, dass ich gerade die Landesgrenze nach Thüringen passiert hatte, nahm ich die nächste Ausfahrt und suchte einen Standort, um wenigstens einen dieser Gedanken abzuarbeiten. Direkt hinter der Ausfahrt befand sich ein McDonald’s, das für diesen Zweck ausreichte. Ich kaufte mir einen großen Milchkaffee, griff mein Notebook und schrieb los.
Beim Schreiben vergesse ich meine Umgebung und bewege meist die Lippen. Als ich fertig war, sahen mich einige Menschen an den Nebentischen ziemlich merkwürdig an. Ich hatte für sie wohl wie ein tief in Selbstgespräche versunkener Sonderling gewirkt. Ich ging zurück zum Auto, postete den Text „Egon Bahr 1922 – 2015“ an Sporadum (siehe oben) und fuhr ausgeglichen und zufrieden nach München.