Heute vor fünfzig Jahren war ebenfalls ein Sonnabend. Ich hatte Schulferien und befand mich in London. Abends streifte ich mit Holger Kühn, einem Klassenkameraden vom Kirchenpauer-Gymnasium in Hamburg, durch Soho. In einer Kneipe, die damals direkt unter dem Pickadilly Circus lag, hatten wir etwas getrunken. Als wir wieder ans Tageslicht kamen, erstaunte uns ein zunehmender Strom singender, tanzender und feiernder Menschen. Leute bildeten massenhaft Reihen, indem sie sich gegenseitig an den Schultern festhielten, hüpften und im Rhythmus ihres Gesangs abwechselnd das rechte und linke Bein nach vorn warfen.
Es herrschte eine frohe, geradezu ausgelassene Atmosphäre. Die simplen Texte und Töne, die alle in einer erst ansteigenden, zum Schluss abfallenden Dreiklangfolge von sich gaben, gingen mir heute Morgen wieder durch den Kopf: „We won the cup. We won the cup. We won, we won, we won the cup“. Holger und ich erkundigten uns an diesem Abend neugierig nach dem Anlass der Jubelstimmung. Wir stießen auf ungläubige Reaktionen. Soeben war das Finale der Fußball-Weltmeisterschaft im nahen Wembley-Stadion ausgetragen worden, ausgerechnet zwischen England und Deutschland. Um 15 Uhr war Anstoß gewesen. Die Engländer hatten „uns“ dann mit 4:2 Toren besiegt und damit den Worldcup erobert. Und davon sollten wir Jungen aus dem deutschen Hamburg nichts mitgekriegt haben? Aber genau so war es. Die Londoner, die uns bald umringten, waren davon ziemlich irritiert. Aber wir wurden trotzdem ziemlich schnell zu diversen Drinks eingeladen.
Was im Rückblick mich irritiert: Kann meine Erinnerung wirklich stimmen? War wirklich alles so aggressionsfrei, so ausgesprochen freundlich, fast herzlich, wie es mein Gedächtnis wiedergibt? Gab es damals tatsächlich noch keine Hooligans in nennenswerter Zahl, keine grölenden Horden, keine Lärmmaschinen? Meine eigene Antwort: Die Erinnerung stimmt. Dort wo wir waren, im Umfeld von Soho, erlebten wir ein zutiefst offenes und menschliches Klima.
Es wurde ein langer Abend. Wir zogen durch diverse Pubs, feierten vergnügt mit. Wir wurden, als Schüler aus dem im Finale besiegten Land, immer wieder großzügig mit Bieren versorgt und bezahlten manchmal auch selbst. Als wir schließlich aufbrachen, fuhren auf unserer Strecke keine Busse und Bahnen mehr. Wir wanderten durch lange Straßenzüge vorbei am Kings Cross bis in den nördlichen Stadtteil Highbury in der Borough of Islington. Dort hatten wir Quartier gefunden im Gebäude der deutschsprachigen Londoner Gemeinde der urbritischen Methodistenkirche.
In wieweit es in unserer Gegenwart an diesem Abend Diskussionen über das umstrittene und berühmte „Wembley-Tor“ gab, das England nach der Verlängerung in Führung gebracht hatte, weiß ich nicht mehr. Es muss sie gegeben haben. Tatsächlich diskutierten Millionen Briten und Deutsche an diesem Abend darüber. Die Boulevardzeitungen beider Länder beteiligten sich tagelang. Die Frage war, ob der englische Spieler Geoffrey Hurst den damals noch braunen Ball in der 101-sten Minute nur an die Latte und Grundlinie, aber nicht hinter die Torlinie geschossen hatte. So hatte es zunächst auch der Schiedsrichter gesehen. Oder ob der Ball, wie der Linienrichter meinte und der Schiedsrichter dann akzeptierte, wirklich im Tor gelandet war.
Fernseh-Fussball hatte damals total außerhalb meiner ansonsten nicht besonders eingeschränkten Interessenfelder gelegen. Ich hatte mir zwar während der Ferien regelmäßig englische Zeitungen gekauft, aber die Sport-Artikel überbättert. Die Sport-Seiten sagen mir bis heute nicht viel. Aber längst bemühe ich mich, die wichtigsten Spiele aller Fußball-Welt- und -Europameisterschaften in Biergärten oder Kneipen und in Gesellschaft von Freunden anzuschauen. Im vergangenen Jahr beobachtete ich erstmals ein Bundesliga-Spiel in einem Stadion vor Ort.
Was mich deshalb im Rückblick auf den Sommer 1966 ziemlich verwundert: Ich war damals bereits seit Wochen auf der Insel. Ich hatte sie per Anhalter von Brighton im Süden bis hoch nach Schottland bereist und hatte mein weniges Familien- und mein noch mäßiges Schulenglisch beherzt genutzt, um mit vielen Menschen ins Gespräch zu kommen. Mit Fernfahrern hatte ich diskutiert, ob die Stones oder die Beatles besser sind. Über Glaubensfragen hatte ich mit einer englischen Pastorenfamilie geredet, die in ihrer total überfüllten Limousine doch noch ein Plätzchen für den müde am Straßenrand stehenden Tramper freigemacht hatte. Mit Schwulen war ich erstmals im Leben in Edinburg ins Gespräch gekommen.
Auf dem Londoner Trafalgar Square hatte ich mir von dunkelhäutigen Einwanderern beibringen lassen, wie man fremde Mädchen am elegantesten anspricht, ohne gar zu aufdringlich zu wirken. In der National Gallery auf der Nordseite des Platzes hatte ich diese neue Qualifikation dann begeistert und auch gar nicht besonders erfolglos trainiert.
Soviele Begegnungen mit so vielen Menschen: und trotzdem keine Ahnung, dass in diesem Land seit drei Wochen eine Fußball-Weltmeisterschaft und heute, eine Armlänge entfernt von hier, ein Jahrhundertfinale stattfand?
Damals schüttelten die Londoner den Kopf, heute ich.