Frühstück am Sonntagmorgen. Gesprächsthema unter anderem: die vierstündige Faust I und II – Aufführung des Berliner Ensemble am Vorabend in der Inszenierung von Robert Wilson und in Anwesenheit des Komponisten Herbert Grönemeyer. Schauspielerisch, aber vor allem stimmlich phantastisch: Christopher Nell als Mephistopheles. Musik: gefällig, teilweise spontan ohrwurmhaft. Die Textfassung von Jutta Ferbers klatscht das Ende von Faust II an das Ende von Faust I und lässt Faust II pessimistisch statt, wie in Goethes Original, optimistisch oder zumindest versöhnlich enden. Ist aber egal, weil das Ganze nach meinem Empfinden nicht als Schauspiel, sondern als Videokollage konzipiert ist und als solche virtuos, kurzweilig und witzig daher kommt. Wer sich für die „Philosophie“ des Faustthemas interessiert, hat hier nichts zu finden. Ebenso zu kurz kommt, wer zumindest den Plot verstehen will und ihn nicht sowieso schon kennt.
Das Stück hat viel Beifall bei der Kritik gefunden. Ich finde, auch diese Inszenierung markiert mal wieder den Sieg der Form über den Inhalt. Aber das stört heute kaum noch einen Kritiker.
Widerruf: Heute Abend habe ich noch ein paar Kritiken zur Premiere im April vergangenen Jahres nachgelesen – Deutschlandunk, Tagesspiegel, Berliner Zeitung, ZEIT. Ich habe den Kritikern unrecht getan. Sie sind keineswegs so euphorisch, wie ich aus falscher Erinnerung behauptet habe. Sie gehen mit der Inszenierung doch hart ins Gericht. Obwohl ich zum Teil ganz andere Sachen schlecht fand, als sie.