Begegnung auf dem Weg zur Badestelle, nach dem Frühstück morgens um neun. Die Ringelnatter hatte offensichtlich mindestens genauso gut gefrühstückt wie ich. Beinahe hätte ich sie übersehen. Ich bemerkte sie erst, als ich fast schon an ihr vorbei war, blieb dann wie angewurzelt direkt neben ihr stehen und hatte zunächst Herzklopfen. Ich trug nur Sandalen.
Aber die Natter war nicht giftig. Sie hatte ihren Kopf vom Pfad – also auch von mir – weggedreht und regte sich nicht. Die beiden arttypischen hellen Flecken hinter den Augen waren gut zu erkennen. Hatte sie schnell zurück ins Gebüsch flüchten wollen, das aber mit der fetten Beute im Bauch nicht geschafft? Das liegt nahe.
Jetzt aber blieb sie mit ihrem verdrehten Hals und ihrer Länge von annähernd einem Meter starr vor mir liegen und hatte wahrscheinlich Angst.
Sie reagierte auch nicht, als ich sie mit dem Telefon fotografierte und ihr dabei noch näher kam. Einige Minuten später kehrte ich vom Schilfufer zurück, und sie war zu meiner Überraschung noch immer da. Allerdings hatte sie ihre Position verändert. Erneut blieb sie wie tot liegen, während ich noch ein paarmal auf den digitalen Auslöser drückte.
Aus einem anderen Blickwinkel und mit Blitzlicht fotografiert, sieht sie viel schwärzer aus als auf den ersten Bildern, wo ihre Farbe eher dem sie umgebenden Laub gleicht.
Es kann sein, dass ich diese Schlange jetzt überhaupt nur wahrnahm, weil ich wenige Tage zuvor im Garten unter dichten Blättern bereits das Häutungsrelikt einer andersfarbigen Ringelnatter entdeckt hatte. Warum gerade hier? Ringelnattern verzehren gerne Amphibien las ich, leben deshalb meist nahe an Gewässern und sind gute Schwimmer.
Die leblose Hülle am Boden hatte ich zunächst für eine echte Schlage gehalten und sie mit einer Kamera aus respektvoller Distanz abgelichtet. Meine letzte Begegnung mit einer lebendigen Schlange liegt hier schließlich Jahrzehnte zurück.
Das war damals an einem heißen Tag auf demselben engen Pfad zum Schilfgürtel gewesen. Sie hatte sich aufgerollt gesonnt. Wir trugen zu zweit ein Surfboard. Ich war vorne gegangen und hatte das Knäuel am Boden erst bemerkt, als es sich wenige Meter vor uns auflöste und dann ein schlängelndes Etwas blitzschnell, aber mit vernehmaren Rascheln, im Buschwerk entschwand. Wir hatten damals gerätsel, ob wir womöglich einer der hier ebenfall vorhandenen Kreuzottern begegnet waren.
Mittags ging ich jetzt erneut zum Wasser. Die Natter vom Morgen war zu meiner Begeisterung noch immer da – oder erneut. Diesmal hatte ich keine Hand zum Fotografieren frei, weil ich eine hoch mit Grünschnitt beladene Schubkarre schob. Auch vor diesem direkt neben ihr entlang rollenden Ungetüm konnte die Schlange offensichtlich nicht fliehen und verhielt sich wie versteinert. Ich nahm mir vor, sie auf dem Rückweg noch einmal zu fotografieren. Aber da war sie dann wirklich weg.
Die Begegnung – sie fand am letzten Donnerstag statt – beschäftigte mich. Heute Abend schlug ich dann die Lutherbibel auf, die Schöpfungsgeschichte mit dem Sündenfall und seinen Folgen, 1. Buch Mose, Kapitel 3:
Da sprach Gott der HERR zu der Schlange: Weil du solches getan hast, seist du verflucht vor allem Vieh und vor allen Tieren auf dem Felde. Auf deinem Bauche sollst du gehen und Erde essen dein Leben lang. Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Samen und ihrem Samen. Derselbe soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen. Und zum Weibe sprach er: Ich will dir viel Schmerzen schaffen, wenn du schwanger wirst; du sollst mit Schmerzen Kinder gebären; und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, und er soll dein Herr sein.
Bis die Aufklärung sie erreichte, hielten Juden und Christen diese Schilderung göttlicher Rachsucht gegenüber Schlangen und Menschen, speziell Frauen – hier zitiert nach der Luther-Übersetzung in der Fassung von 1912 – meist für wörtlich wahr, für gerechtfertigt und für einen Teil der Naturgeschichte. Wäre ich selbst ein paar Generationen früher geboren, hätte ich am Donnerstag vermutlich einen Knüppel gesucht und auf das wehrlose Tier eingedroschen, bis es tatsächlich tot gewesen wäre. Und hätte dabei geglaubt, etwas Gottgefälliges zu tun.
Heutzutage freuen wir uns über die seltene Gelegenheit, dass uns ein solches Tier draußen tatsächlich einmal begegnet und sich betrachten lässt. Dann rästeln wir ohne Abscheu, ob es vielleicht statt eines Lurchs doch ein Nagetier ist, das sich so prominent auf seinem Verdauungstrakt abzeichnet. Ich tippe auf Maus oder junge Ratte.
In Indien oder Afrika mag das anders sei, aber jedenfalls wir Mitteleuropäer können doch sehr friedlich mit der Schlange koexistieren und stehen zu ihr nicht einmal in Futterkonkurrenz. Und was die Frauen betrifft: Auch außerhalb des Abendlands freuen wir Menschen uns in wachsender Zahl und entgegen dem 1. Buch Mose, Kapitel 3 besonders über Frauen, zu denen wir aufblicken können. Sozusagen gottseidank.