Mitternacht ist vorüber. Die Nachrichten berichteten vom deutschen Wahlkampf, von der Rohingya-Tragödie in Myanmar, von den Nachwehen der Wetterkatastrophe im Süden der USA und von krank gemeldeten Air-Berlin-Piloten. Ein paar Nebennachrichten finden ihren Weg in die elektronischen Nachtausgaben der Zeitungen. Eine davon geht mir länger durch den Kopf.
Ein elfjähriger italienischer Junge ist gemeinsam mit seinen Eltern in einem Vulkan nahe Neapel ums Leben gekommen. Das Kind hatte eine Absperrung des erst vier Jahrtausende jungen, derzeit schlafenden Solfatara missachtet und war infolge aufsteigender giftiger Dämpfe ohnmächtig geworden.
Um das Leben ihres Kindes zu retten, ignorierten seine Eltern die Sperre dann ebenfalls. Unter ihnen löste sich ein Kraterriss. Sie stürzten gemeinsam mit dem Kind in eine Vulkankammer. Der siebenjährige Bruder war Zeuge der Tragödie. Verzweifelt schreiend versuchte er, Hilfe zu holen.
Ein schrecklicher Vorgang. Ich verbinde ihn mit eigenen Erinnerungen. Ich kenne den Vulkan. Er ist gefährlich, raucht und stinkt. Aber er ist ungemein faszinierend, lockt viele Besucher an und gilt als touristisches Highlight. An mehreren Stellen treten heiße, schweflige Dämpfe aus dem Geröll. Die Austrittsstellen haben eine grelle gelb-orange Farbe, die sich scharf von der staubgrauen Umgebung abhebt. Die Römer nutzten die Dämpfe für eine Sauna, die heute noch steht.
Die steilen Außenwände des Kraters (Innenumfang knapp 3 Kilometer) sind an diversen Stellen abgesperrt. Das Risiko, das hier besteht, ist auf Schritt und Tritt spürbar. Viel intensiver zum Beispiel als auf dem 250 Kilometer weiter südlich im Meer gelegenen Stromboli, den wir mit Freunden einmal zu Silvester erkletterten, um ein besonders eindrucksvolles Feuerwerk zu erleben.
Der Text der Warnhinweise innerhalb des Solfatara ist deutlich und eindringlich. Aber auch ich empfand damals eine starke innere Versuchung, sie zu ignorieren.
Ist ein Staat verpflichtet, Vulkane besser zu sichern? Ich glaube, das ist im Einzelfall möglich und sollte dann geschehen. Aber umfassend sicher machen lässt sich eine Vulkanlandschaft nicht.
Im September vor drei Jahren fesselte der Solfatara mich selbst so sehr, dass ich trotz des stechenden Geruchs über Nacht blieb und campierte. Das war legal. Es gibt dort einen kleinen, kostenpflichtigen Zeltplatz, eine rudimentäre touristische Infrastruktur und Warnschilder. Telefon und Internet funktionier(t)en nicht.
Der Solfatara liegt im Zentrum eines ausgedehnten vulkanischen Gebiets mit etwa 50 Austrittsherden zwischen der Insel Ischia und dem Stadtrand von Neapel. Sein Name „Phlegräischen Felder” stammt von den alten Griechen. Phlégein (φλέγειν) hieß ‚brennen‘. Die Gegend steckt voller landschaftlicher und archäologischer Besonderheiten.
Seit wenigen Jahren weiß man, dass die Phlegräischen Felder in zehn Kilometern Tiefe eine gemeinsame Magmakammer mit dem Vesuv haben. Gemeinsam gehören beide zu der Caldera eines Supervulkans. Dessen Überreste heißen Golf von Neapel. Die Südbegrenzung des Golfs, beziehungsweise der Caldera, bilden die Insel Capri und die Halbinsel von Sorrent mit ihren zerklüfteten Felsabstürzen.
Als ich auf der Halbinsel in jenem Jahr einen malerischen Flecken für mein kleines Zelt gefunden hatte (Foto oben), lagen mir die Phlegräischen Felder und Neapel gegenüber. Das ausgegrabene Pompeji lag rechts. Aber die dazwischen befindliche Caldera ist so ausgedehnt, dass ich den Nordrand, mit Neapel im Zentrum, tagsüber nicht sehen konnte. Nur nachts seine Lichter.
Das ist alles ungeheuer schön. Aber an das wirklich Ungeheuerliche denkt man beim Schauen nicht. Wenn doch, dann mit wohligem Gruseln. Wie schnell das Wohlige doch umkippen kann!