Einmal im Jahr lädt das Bundesverfassungsgericht zu einem abendlichen Pressegespräch nach Karlsruhe ein. Zwei Tage später berichtet dann die Tagespresse über die letztjährige Arbeitsbilanz des Gerichts. Elektronische Medien tun es schneller. Gastgeber als Gerichtspräsident war von 1987 bis 1994 der gestern verstorbene Roman Herzog. Weil ich mit Redaktionssitz in Köln viel über die Folgen höchstrichterlicher Urteile – meist im Steuerrecht – schrieb, war ich von 1983 bis 2000 fast jedes Jahr dabei. Manchmal besuchte ich damals auch die im gleichen Stil ganz in der Nähe ablaufenden Jahrespressekonferenzen des Bundesgerichtshofs.
Bei den Gesprächen gab es ein gutes Essen, guten Wein und für Journalisten viel Gelegenheit, mit den unterschiedlichsten Richtern ins Gespräch zu kommen. Die Abende beim Bundesverfassungsgericht dauerten lang. Oft deutlich nach Mitternacht gingen dann noch einige Journalistinnen und Journalisten – fast alle, anders als ich, Mitglieder der Justizpressekonferenz (JPK) – gemeinsam in Karlsruher Kneipen. In den frühen Jahren stießen manchmal auch Richter hinzu. Später habe ich das nicht mehr erlebt.
Im Jahr 2000 übernahm meine Frau als Folge des Regierungs- und Parlamentsumzugs von Bonn nach Berlin für ihren Sender eine neue journalistische Aufgabe an der Spree. Ich machte mich als freier Journalist selbständig, wurde Mitglied der Bundespressekonferenz und zog ihr voraus. Als Bundespräsidenten erlebte ich Roman Herzog aber in Berlin nicht mehr. Er hatte kein zweites Mal kandidiert, und im Mai 1999 hatte die Bundesversammlung Johannes Rau im Berliner Reichstag zu seinem Nachfolger gewählt. Im Folgejahr fuhr ich zum letzten Mal zu einem Karlsruher Pressegespräch an den Oberrhein, danach nur noch zu besonderen Verhandlungsterminen.
Als Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts hatte ich zuvor Wolfgang Zeidler (Präsident von 1983 bis 1987), Roman Herzog (Präsident von 1987 bis 1994) und Jutta Limbach (Präsidentin von 1994 bis 2002) erlebt. Aber es gab in diesem Gericht viel mehr selbstbewusste und hoch produktive Richter. Sie trafen ihre Entscheidungen in keiner Weise „unter” einem Präsidenten oder einer Präsidentin. Zu den Richtern, die mich dort als Persönlichkeiten extrem beeindruckten, gehörte die energiegeladene Renate Jaeger, die später Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg wurde.
Thematisch besonders interessant und beruflich besonders wichtig für mich war ein Verfassungsrichter, der nicht Präsident wurde, aber steuer- und staatsrechtlich überragenden Einfluss ausübte und dem Gericht von 1987 bis 1999 angehörte, Paul Kirchhof. Nur wenige andere Verfassungsrichter haben ihre Mitrichter mehrfach in vergleichbarer Weise auf völlig neue Geleise gelenkt. Um solche Star-Richter saßen die Journalisten nach einigen Jahren in genauso aufmerksamen Gruppen herum, wie um die Präsidenten und Vizepräsidenten.
2005 wollte Kirchhof für Angela Merkel in Berlin Finanzminister werden und kämpfte im Wahlkampf als ihr Zugpferd für radikal vereinfachte Steuern. Als er sich dabei aber nicht an die Parteidisziplin hielt und Kanzler Gerhard Schröder ihn abschätzig einen experimentierfreudigen „Professor aus Heidelberg” nannte, wurde er für Merkel zur Belastung und gab auf.
Aus Sicht der Richter gab es auch unter den Journalisten „Stars”. Auffällige Honneurs machten sie – auch die Präsidenten – nach meiner Erinnerung etwa dem Karlsruher Spiegel-Korrespondenten und JPK-Vorsitzenden (bis 1998) Rolf Lamprecht, den ARD- und ZDF-„Rechtsexperten“ Karl-Dieter Möller und Bernhard Töpper oder dem FAZ-Innenpolitiker Friedrich Karl Fromme.
Im Prinzip aber verfügte gerade Roman Herzog bei den abendlichen Pressegesprächen stets über eine deftige Respektlosigkeit gegenüber Autoritäten. Das galt auch bezüglich des Ministerpräsidenten und dann Bundeskanzlers Helmut Kohl, dem er sein Amt im Kern verdankte. Bildhaft und sehr humorvoll erzählte er von den politischen Verhandlungen zwischen Bund und Ländern, die er als Leiter von Helmut Kohls und später Bernhard Vogels rheinland-pfälzischer Landesvertretung in Bonn (1973 bis 1978) und anschließend in Baden-Württemberg als Lothar Späths Kultus- und dann Innenminister (1978 bis 1983) intensiv miterlebt und mitgestaltet hatte.
Ich sprach Roman Herzog nach seiner Ernennung zum Vize-Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts – sie erfolgte im Dezember 1983 – einmal auf Franz Klein an, seinen Nachfolger als Leiter der rheinland-pfälzischen Landesvertretung in Bonn. Klein hatte dort im Umfeld von Helmut Kohl eine Schlüsselstellung innegehabt, weil er die Haushaltsrelevanz der unterschiedlichsten Bundesgesetze aus dem FF kannte und die finanziellen Folgen von Gesetzesänderungen für die Haushalte von Bund und Ländern gut einschätzen konnte.
Schon 1971 hatte Kohl ihm deshalb als Mainzer Ministerpräsident die Leitung einer Arbeitsgruppe Finanzen in der Bonner Landesvertretung übertragen. Die Leitung der ganzen Vertretung übernahm dann 1973 zunächst Herzog als Kohls Bevollmächtigter beim Bund und erst nach ihm Franz Klein. Solange Helmut Kohl nicht über die Ressourcen eines Kanzlers verfügte, blieb Klein für Helmut Kohl als Berater bei Bund-Länder-Verhandlungen unentbehrlich.
Aber als Kohl am 1. Oktober 1982 Kanzler wurde, verlor Klein diese Schlüsselfunktion. Schon im April 1983 war Franz Klein dann Präsident eines der fünf höchsten deutschen Bundesgerichte, des Bundesfinanzhofs in München. Er behielt diese Stellung bis 1993. Zehn Jahre später verstarb er. Damals aber wurde allgemein angenommen, dass ihn Helmut Kohl persönlich in dieses Amt gehievt hatte. Das war wohl keine falsche Spekulation.
In der Richter- und Anwalts-Szene führte das zu Diskussionen. Es hieß, Franz Klein hätte keine Richtererfahrung, hätte während seiner gesamten Karriere nicht ein einziges Urteil geschrieben. Und nun sei er plötzlich allein wegen seiner ‚Connections‘ Präsident eines der höchsten Gerichte. „Der Klein denkt doch nicht juristisch, sondern fiskalisch”, sagte mir damals der in CDU und CSU bestens vernetzte Kölner Steueranwalt Günther Felix.
Auf diese noch ganz frischen Diskussionen um Franz Klein, die ihm natürlich nicht entgangen waren, sprach ich Roman Herzog also zu Beginn des Jahrs 1984 oder des Jahrs 1985 beim Pressegespräch in Karlsruhe an. Zu dem Branchen-Getuschel sagte Herzog nichts. Aber er erzählte von früher. Er schilderte die Atmosphäre, die herrschte, als Helmut Kohl Mainzer Ministerpräsident und dann Bundestags-Oppositionsführer war, wie er die Verhandlungen für die Unions-Seite beherrschte und wie er der Gegenseite entgegentrat.
Wenn sich ein Kompromiss abzeichnete, habe Kohl immer den Franz Klein gefragt, mit wie viel Geld die angedachte Gesetzesfassung die Kassen von Bund und Ländern belasten würde. Franz Klein habe dann stets die Antwort gewusst. Entweder er habe sie sofort am Tisch errechnet, oder er sei kurz rausgegangen und schnell mit den Zahlen zurückgekehrt. Ich fragte Herzog, ob ich das schreiben dürfte. Er sah darin kein Problem, sagte aber sinngemäß, ‚tun Sie das später mal’. Ich schrieb alles aus frischer Erinnerung in meine Recherchekladde.
Aber für eine bestimmte Formulierung brauche ich die Kladde nicht. Nie vergessen werde ich nämlich, was Herzog dann über den neuen Präsidenten des Bundesfinanzhofs äußerte: „Wir nannten ihn immer den Mann mit dem Taschenrechner.“