Das Vereinigte Königreich hat bei dem Plebiszit am 23. Juni seinen Austritt aus der EU beschlossen. Mit 16 Millionen Ja- gegenüber 14 Millionen Nein-Stimmen haben die Engländer und die Einwohner von Wales dabei die Schotten und die Nordiren überstimmt. Dort stimmten 2,1 Millionen Einwohner gegen und nur knapp 1,4 Millionen für den Austritt. Für den Fall, dass die Regierung das Plebiszit vollzieht, spielen die Schotten jetzt wieder offen mit dem Gedanken, das Königreich ganz zu verlassen.
warum wollen die Briten weg?
Aber woher kommt der offensichtliche Hang vieler Engländer zur Selbstisolierung? Mir scheint, dass der dem Brexit zuneigende Teil des Inselvolks für Europa gerne das wäre, was die Mitglieder eines exklusiven Londoner „Gentlemen’s Club” für ihre nicht zum Club gehörigen Landsleute sind. In der politischen Debatte Englands wird der Vorgang tatsächlich oft einfach als „Leaving the Club“ bezeichnet.
Diese Assoziation ging mir auch durch den Kopf, als ich kürzlich – drei Monate nach dem Brexit-Votum – erstmals selbst einen Londoner Mitglieder-Klub betrat. Ich nehme den Gedanken jetzt einmal zum Anlass zu einem ausgedehnten Streifzug durch das Londoner „Clubland” und lasse meiner Spekulation dabei freien Lauf.
Die Engländer interessieren mich seit meiner Kindheit im niedersächsischen Oldenburg. Der Hauptgrund: Ich wurde als Methodist erzogen, also als Angehöriger einer aus England stammenden evangelischen Freikirche. Zu meinen frühesten Spielkameraden gehörten andere Kinder aus anderen methodistischen Familien und auch Kinder aus der Baptistenkirche in der Nachbarstraße. Die Baptisten waren ebenfalls in England entstanden. Zuhause wurde viel aus England erzählt, und wir hatten regelmäßig englische Gäste.
Von den Londoner Clubs wusste ich aus der Schule in Hamburg und aus diversen Büchern. Als Oberschüler war ich 1966 erstmals auf der Insel und verbrachten den Großteil meiner Sommerferien in London. Damals hielt ich es für ausgeschlossen, in naher Zukunft einmal Zugang zu einem der Gentlemen’s Clubs zu erhalten, in denen Sherlock Holmes, zeitweise mein literarischer Lieblings-Detektiv, schweigend und lesend seine Mußestunden verbrachte. Aber ich hätte es mir sehr gewünscht. Und ich fragte mich bei manchem Gebäude im Zentrum dieser riesigen Stadt, ob es nicht einen solchen Klub beherbergt. Heute weiß ich, dass ich damit zwischen Trafalgar Square und Buckingham Palast häufiger richtig lag, als ich ahnte.
Brücke der Nationen
Inzwischen weiß ich ohnehin einiges mehr über diese Einrichtungen und auch über ihre politische und gesellschaftliche Bedeutung. Die ist größer und vielschichtiger, als ich ahnte. Die Klubs sind auch deutlich abgeschirmter, als ich schon damals vermutet hatte.
In den Schülerjahren hatte ich eine sehr konkrete Vorstellung über das passendes Äußere der Klubs. Der „Socrates Club“, den sich Arthur Conan Doyle für seinen berühmten Helden Holmes ausgedacht hatte, erinnerte mich mit seinem strikten Schweigegebot und seiner intellektuellen Atmosphäre zunächst einmal sehr an die vom British Council gesponserte Bibliotheksvilla Gartenstraße 5 in meiner Kindheits- und Jugendstadt Oldenburg, wo meine Eltern, mein Bruder und ich bis 1964 gelebt hatten.
Das Gebäude trug den schönen Namen „Brücke der Nationen“ oder kurz „Brücke“. Ich hatte sie jahrelang Woche für Woche aufgesucht, um Bücher in Ruhe anzulesen und meist auch auszuleihen. Beosnders hatten es mir die Kinderbücher der Londoner Schriftstellerin Enid Blyton angetan, durch die ich mich bald auch auf englisch kämpfte. Auch meine Conan Doyles fand ich hier.
Die Häuser, vor denen ich im Sommer 1966 bei meinen jugendlichen Streifzügen zwischen der City of London und der City of Westminster stehen blieb, waren allerdings meist deutlich prachtvoller als die „Brücke“ in der kleinen niedersächsischen Stadt. Oft suchte ich dann vergeblich nach einem Indiz für ihre Verwendung oder ihren Besitzer. Selten gab es ein Türschild. Wohnt hier eine Witwe aus dem Hochadel? Eine Industriellenfamilie? Oder beherbergt das Haus doch so etwas wie den „Diogenes Club“?
Buch- und SchulPhantasien
Conan Doyle hatte dem Klub eine Adresse nahe der St. James‘s Street gegeben, wo sich auch im realen Leben ein erheblicher Teil der gut 50 Londoner Gentlemen’s Clubs befindet. Beim Betreten hatte Holmes dem Klub-Diener zunächst Schirm und Mantel gereicht. Dann hatte er in einer blickgeschützten Couch-Ecke Platz genommen und begonnen, ungestört und gründlich die Zeitungen durchzugehen. Irgendwann hatte sich schließlich sein Freund Dr. Watson zu ihm gesellt. Im Bereich des Stranger’s Rooms, wo das Redeverbot aufgehoben war, reichten die Gespräche dann von der Speicherkapazität des menschlichen Hirns („Sehr interessant“, sagte Holmes zu Watson, „ich werde sofort versuchen, es zu vergessen“) bis zu den Besonderheiten des aktuellen Kriminalfalls.
Aus dem Unterricht in den beiden Jungen-Gymnasien, die ich nacheinander in Oldenburg und Hamburg besuchte, wusste ich allerdings, dass Doyles‘ Klub-Schilderung nicht verallgemeinerungsfähig war. Der original englische Englischlehrer in Hamburg zum Beispiel schilderte uns die Mitglieder der Klubs als begütert, dandyhaft gekleidet, hochnäsig und flegelhaft. Ich meine, mich auch zu erinnern, warum er sie uns so beschrieb: um zu erklären, was unter einen Snob zu verstehen ist. Es liegt nahe, dass er damals vor allem an den „White’s Club” (Foto) dachte, auf den diese Beschreibung besonders gut passt und der Londons bekanntester und nach jeder Zählweise eindeutig auch ältester (Gründung 1693 oder 1736) Herrenklub ist.
Der Englischlehrer hatte uns Schülern mit seiner Beschreibung sicherlich zugleich Distanz zu diesen Einrichtungen und ihren abgehobenen Mitgliedern einimpfen wollen. Aber in Wahrheit hatte die Schule meine Neugierde auf die geheimnisvollen Vereine und ihre Häuser eher verstärkt. Einige von uns fanden es ja sogar toll, sich mit kariertem Stockschirm zum weißem Rollkragenpullover zu präsentieren und sich dann selbst als Dandy zu fühlen.
Die neugierde kehrt zurück
Schnell änderte sich der Zeitgeschmack. Als ich zum Ende der Schulferien aus London zurück nach Hamburg fuhr, trug ich bereits eine viel ungeordnetere Pilzfrisur, als sie die Beatles zweieinhalb Jahre zuvor von Hamburg nach London gebracht hatten. Und als mich dann der politische Sommer 1968 packte, fand ich jedes Oberschichtsgehabe ohnehin längst abstoßend. Hätte mich jemand zu dieser Zeit nach einem Londoner Gentlemen’s Club gefragt, ich hätte ihm vorschlagen, lieber die gleichnamigen Etablissements hier in St. Pauli zu besuchen.
Wir flogen also im Frühling in dem Wissen nach London, im Herbst noch einmal und in einem der Klubs, die meine Fantasie in der Jugend so beschäftigt hatten, zu feiern. Während der dazwischen liegenden Sommermonate nahm ich klubmäßig manches wahr, das mir andernfalls nie aufgefallen wäre.
Auch Ein schweigegebot
Aber kürzlich spürte ich, wie die Neugierde aus den Schülertagen wieder heftig in mir aufstieg. Unsere Freundin Adele fragte meine Frau und mich, ob wir nicht Lust hätten, an einer Geburtstagsfeier unseres Freunds Mick im „Garrick“, einem der höchstkarätigen Londoner Gentlemen’s Clubs, teilzunehmen. Kaum stand die Frage im Raum, stand mir auch schon die romantische Schweige- und Leseszene aus dem Diogenes Club wieder vor Augen. Wir sagten zu. Und dann das: Auch schon für den 20. Mai, auf das Datum genau vier Monate vor Micks Feier, hatten wir bereits Tickets nach London gebucht, um dort die Kerzen meines eigenen Geburtstagskuchens auszupusten.
Aber leider konnte ich darüber nur mit Vorsicht sprechen. Denn Adele wollte ihren Mann sowohl mit der Londonreise wie mit dem exklusiven Klubabend überraschen. Deshalb legten wir ein Schweigegelübde ab: bis zum letzten Tag gegenüber niemandem, mit dem Mick in Berührung kommen könnte, über das Reiseziel und über unser Kommen zu sprechen.
Dafür mussten wir uns dann ziemlich auf die Zunge beißen, wenn wir mit den beiden ein Bier tranken. London allgemeinen und die Gentlemen’s Clubs im Besonderen sind schließlich Themen, über die man gerne plaudert, wenn es einen guten Grund gibt.
Was das Schweigen zusätzlich erschwerte: Mitten zwischen den beiden Geburtstagsfeiern in Löndon beschlossen die Briten mit einer Mehrheit von 52 Prozent den Brexit. Mick, Fernsehreporter bei einem Privatsender, kommentierte das so: „Ich glaube, jetzt wählen die Amerikaner auch den Trump“. Ich hielt das für unvorstellbar und bot ihm eine Wette dagegen an. Zu meinem Glück wetteten wir nur um die Ehre. 49 Tage nach Micks Geburtstags-Prognose gewann Trump die Wahlmänner-Mehrheit.
Aber zwischen dem Brexit-Votum und Micks Geburtstagsfeier am 20. September hatten die Briten beschlossen, to leave the club. Es war das Gesprächsthema. Zu gerne hätte ich dabei die Parallele zu den verschlossenen britischen Klubs in die Diskussion eingebracht. Aber das ging ja aus besagter Schweigeverpflichtung nicht.
Obwohl sich der Vergleich zur britischen Volksentscheidung aufdrängt. Wer zu denen gehört, die drinnen sind, darf sich auch draußen umsehen. Aber wer zu denen gehört, die draußen sind, darf nicht hinein. Ein Klubdenken, das nur Privilegierte als natürlich empfinden können.
„The Reform”
Ich grübelte also alleine weiter. Den Garrick Club, den Mick bald gemeinsam mit uns kennen lernen sollte, nennt Wikipedia „one of the oldest, most highly esteemed and most exclusive members‘ clubs in the world”. Na gut, was die Wertschätzung der verschiedenen Gentlemen’s Clubs betrifft, so ist das natürlich auch eine Sache des Standpunkts. Zum Beispiel eine Links-Rechts-Frage. Richtig links für seine Zeit war der 1836 gegründete „Reform Club” an der Pall Mall. Er wurde von Edward („der Bär”) Ellice gegründet, Direktor der Hudson Bay Company und treibende Kraft hinter der „Reform Bill” von 1832.
Das in jenem Jahr unter massivem öffentlichen Druck und gegen den entschlossenen Widerstand der Landadel-orientierten Tories durchgepaukte Gesetz brachte den britischen Inseln die erste Wahlkreisanpassung seit 150 Jahren und stärkte die Stadt- auf Kosten der Landbevölkerung. Und es öffnete die Türen für den Übergang zur modernen parlamentarischen (Männer)-Demokratie. Eine wirkliche Demokratisierung erfolgte dann aber erst mit weiteren Gesetzen im letzten Drittel des Jahrhunderts. Sie zog sich, soweit es um das Wahlrecht der Männer ging, bis zum Ende des 1. Weltkriegs hin. Die Frauen mussten noch länger warten.
Der Reform Club – umgangssprachlich einfach „The Reform” genannt – blieb danach noch lange gesellschaftliches Hauptquartier der Liberalen, die die Whigs als linke Leitpartei bereits um 1850 abgelöst hatten, diese Rolle aber nach dem 1. Weltkrieg an die Labour Partei verloren. Nach dem 2. Weltkrieg sanken die Liberals fast in die Bedeutungslosigkeit ab. Nicht so der Klub.
‚The Reform’ war auch der erste Klub, der seinen Mitgliedern Übernachtungsmöglichkeiten bot. Mit vielen vergleichbaren Klubs weltweit hat der Reform eine „Reziprozitäts”-Vereinbarung: Die Klubs erkennen ihre Mitglieder wechselseitig an und gewähren auch den Mitgliedern ausländischer Klubs Zutritt und Wohnmöglichkeiten. Besonders in der Diplomaten-Szene erfreut der ‚Reform’ dabei ziemlicher Beliebtheit.
Die „Rechten” Clubs
Zur Zeit der Reform Bill 1832 war Oberreformer und Reform-Klub-Gründer Ellice Fraktionsvorsitzender der Whig-Partei, damals seit anderthalb Jahrhunderten alleiniger parlamentarischer Konkurrent der rechten Tories. Die Whigs hatten ihr gesellschaftliches Domizil im „Brooks’s” (in der St. James’s Street), dem drittältesten Londoner Gentlemen’s Club. Zweitältester ist das benachbarte „Boodle’s” – benannt nach Edward Boodle, dem Oberkellner zur Zeit der Gründung 1762. Während die Mitglieder des ebenfalls benachbarten White’s außer reichen Angehörigen der Tories vor allem Angehörige des Hochadels waren (und sind), kam die adlige Seite des Boodle’s-Publikums eher aus dem niedrigeren Adel. Zur bürgerlichen Mitgliedschaft des Boodle’s gehörte aber zum Beispiel auch der Moralphilosoph und Ökonom Adam Smith.
Alle drei – White’s, Boodle’s und Brook’s – gingen eigentlich aus normalen Kaffeehäusern hervor. Dass aus ihnen Mitgliederklubs wurden, hing keineswegs mit dem dort gepflegten Politisieren zusammen, sondern mit ihrem ansonsten polizeilich strengstens verbotenen Daseinszweck, dem Glücksspiel und dem Wetten um Geld. Das Verbot galt aber nur in der Öffentlichkeit. Zu den Klubs dagegen hatten nur die Mitglieder Zutritt, und hier konnten sie ihrer Spiel-Leidenschaft umso exklusiver frönen. Die vereinbarten Wetteinsätze und Wettgegenstände waren legendär.
GEHEIMES aUFNAHMEVERFAHREN
Deshalb mischte sich der Adel hier auch mit dem reichen Bürgertum. Ohne solvente Bürger hätten den Dukes und Earls und Peers das Geld gefehlt und die Spielkameraden. Die Kameraderie und das Geld erlaubten den Bürgern wiederum, sich auch im Beisein des Adels lässig bis flegelhaft aufzuführen und gut, aber unkonventionell zu kleiden.
Die anonyme Aufnahmeprozedur stellte sicher, dass keine unliebsame Person Zugang fand. Eine einzige Neinstimme, ein einziger schwarzer Ball in der Urne genügte, um die Aufnahme zu verhindern. Wer unter wessen Einfluss geblackballt wird und einem Klub dann nicht beitreten kann, ist bis heute Gegendstand öffentlicher Erörterungen in der englischen Boulevardpresse.
gESELLSCHAFT IN DER gESELLSCHAFT
Dem Vorbild der drei Urklubs folgend, kam es bald zur Gründung zahlreicher weiterer die Öffentlichkeit ausschließender Männervereine. Ihre aufwändigen Klubgebäude errichteten sie mit Vorliebe an der St. James’s Street oder des Pall Mall in größtmöglicher Nähe zum Eingangstor des St. James’s Palace. Denn dort residierte das Königshaus. Offiziell residiert es dort sogar bis heute. Nur den königlichen Wohnsitz verlegte die gerade Queen gewordene 18-jährige Victoria 1837 ein Haus weiter in den Buckingham Palast. In der Umgebung bildete sich bald ein regelrechtes Archipel aus rund 50 Klubs, die hier prachtvolle Gebäude errichteten. Das war nicht ein Staat im Staate, wohl aber eine Gesellschaft in der Gesellschaft. Im Volksmund erhielt das Gebiet den Namen Clubland.
Alles, was in Clubland vor sich geht, war und ist geheimnisvoll und deshalb bevorzugter Gegenstand der englischen Boulevard- und teilweise auch der seriösen Presse. Und, keine Frage, diese Klubs bieten Stoff für Klatsch in Hülle und Fülle. Literarisch, gesellschaftlich, politisch. Mir selbst kam im letzten Sommer stückweise auch immer mehr von dem in Erinnerung zurück, was ich über die Klubs einmal im Zusammenhang mit Thrillern gewusst hatte.
bUCH-cLUBS
Arthur Conan Doyle war beileibe nicht der einzige Krimiautor, der sich eine fiktive Clubmitgliedschaft ausgedacht hatte, um seinem Protagonisten eine für Normalsterbliche unzugängliche Aura zu verleihen. Auch der James-Bond-Erfinder Ian Fleming – dessen Bond-Romane ich als junger Journalist aus beruflichen Gründen sämtlich einmal las -, machte Bonds Chef „Q.” zum Mitglied eines eigens für die Romane erfundenen „Blades Club” – natürlich ebenfalls in einer Seitenstraße der St. James‘s Street.
Im Blades befand sich zum Beispiel der zentrale Ausgangspunkt des besonders früh geschriebenen aber erst besonders spät, nämlich fünfzehn Jahre nach Flemings Tod, verfilmten „Moonraker“. Für das Buch – jedenfalls in seiner Urfassung – ist der Club zentral. Im Film kommt er nicht vor. An den Film erinnert man sich vor allem wegen des hünenhaften Schauspielers Richard Kiel mit den polierten Edelstahlzähnen und seines Filmspitznamens „Beißer”, beziehungsweise „Jaws”. Den hatte er aber zuvor schon im Bond-Streifen „Der Spion, der mich liebte” getragen.
Tatsächlich verfügten sowohl Conan Doyle als auch Fleming über Insiderkenntnisse. Fleming gehörte dem Boodle’s in der St. James‘s Street an, Doyle war Mitglied des Reform am Pall Mall. Eine im Reform abgeschlossene Wette ist auch der literarische Grund, aus dem Jules Verne seinen Helden Phileas Fogg „in 80 Tagen um die Welt” schickte und ihn pünktlich in das Klubhaus zurückkehren ließ, um hier seinen Wettgewinn von 20.000 Pfund einzufordern.
Die cLUBS, die Frauen und das Plebiszit
Der moderne und politisch eher linke „Reform”-Club mutierte 1981 als einer der ersten vom Gentlemen’s zum Private Member Club nimmt seither auch Frauen als Mitglieder auf.
Das extreme Gegenteil bleibt bis heute der „White’s Club”. Das ist der Öffentlichkeit allerdings schwer zu vermitteln. Zeitungsleser erfuhren dahier im Jahr 2008, dass ausgerechnet der damalige Tory-Vorsitzende und spätere Brexit-Abstimmungs-Initiator David Cameron den Klub im Vorfeld der 2010 von ihm gewonnen Unterhauswahlen „aus Protest” verlassen hatte. Dabei war David Camerons Vater einmal Klub-Vorsitzender gewesen.
Aber die Mitgliedschaft des Sohns war politisch untragbar geworden. Die Klubmitglieder hatten entschieden, Frauen weiterhin nicht einmal in Begleitung von Männern als Gast Zutritt zum Klubhaus zu gewähren. Der 1991 stattgefundene Besuch von Queen Elizabeth II im White’s blieb damit ein erster Ausrutscher – bis sie in diesem Jahr anlässlich ihres 90. Geburtstags eine Mittags-Einladung des White’s erhielt und den Klub in Begleitung ihres Gatten Prinz Philip ein zweites Mal besuchte. Die Abschirmung funktionierte. Erst am 25. Oktober, dem Dienstag der Folgewoche, bekam die Daily Mail Wind von der Sache und meldete den Besuch.
Zwei Jahre vor dem ersten Besuch der Queen hatte Ihr Sohn, White’s-Mitglied Prince Charles, in diesem Haus seinen Junggesellenabschied (die „Stag night“) gefeiert. Am Folgetag sollte er, angeblich lustlos, Diana Spencer (Lady Di) heiraten. Auch der ältere Sohn aus dieser Verbindung, der heutige Kronaspirant Prince William, ist inzwischen Mitglied.
Kaiser Wilhelm kam als Herr Lehmann
Ob der deutsche Kaiser Wilhelm II den Klub in jüngeren Jahren während seiner verschiedentlichen Besuche bei Oma Victoria im Buckingham Palace besucht hatte, weiß ich nicht. Aber ich wette darauf. Denn Victoria schätzte Wilhelms Charakter realistisch pessimistisch ein. Auch Wilhelms Opa – seit 1871 Kaiser Wilhlem I – dürfte sich im Clubland umgesehen haben, als er im Frühjahr 1848 unter bürgerlichen Decknahmen wie „Herr Lehmann” von Berlin nach London flüchtete und sich dort für das Zusammenkartätschen der heimischen März-Demokraten aussprach.
Für einen Ur-Tory wie David Cameron ist es eigentlich unvorstellbar, sich nicht mehr in der Adels- und Bürgerwelt des White’s tummeln zu dürfen. Um die Scharte mit dem verpassten Queen-Besuch auszuwetzen, meldete die Daily Mail dann auch, dass David Cameron nach seinem Rücktritt wegen des von ihm erst angezettelten und dann verlorenen Brexit-Votums das White’s bereits mehrfach wieder aufgesucht hätte. Aber er plane nicht, wieder Mitglied zu werden.
Zwar war Cameron Presseberichten zufolge inzwischen auch Mitglied des ebenfalls Tory-orientierten Carlton Clubs geworden. Aber der besteht nicht aus so hartem Urgestein wie der White’s, bei dessen Erwähnung es zum Beispiel die Daily Mail selten unterlässt, ihn als exklusivsten aller Gentlemen’s Clubs zu bezeichnen, aber auch hervorzuheben, dass sich seine Mitglieder traditionell „raffish” – also ordinär oder pöbelhaft – aufführen.
Clubs und Richterschaft
Es gibt auch Clubs mit einem viel feineren Stil. Etwa den 1831 gegründeten Garrick Club in der Garrick Street, weitab vom Clubland, aber im Zentrum der Londoner Theaterszene. Der Klub benennt sich nach dem berühmtesten englischen Schauspieler des 18. Jahrhunderts, David Garrick. Zu den Klubmitgliedern gehörten etwa der Schriftsteller Charles Dickens („Oliver Twist“), der Komponist Edward Elgar („Pomp & Circumstance March No. 1“ mit dem berühmten „Land of Hope and Glory“), der Wundergeiger Yehudi Menuhin oder der deutsche Sozialwissenschaftler, EU-Kommissar und Präsident der London School of Economics, Lord Ralf Dahrendorf.
Die Wartezeit für Neuaufnahmen beträgt hier sieben Jahre. Heute gehören diesem Klub außer ausgewiesenen Schauspielern und anderen Künstlern auch einflussreiche Journalisten, Spitzenbeamte und Minister mehrerer Kabinette an. Auch eine Reihe so genannter „Queen’s Counsel”, abgekürzt „QC” (deutsch: Kronanwälte), gehören dem Garrick an. Es handelt sich um Anwälte, denen besonders verantwortungsvolle Aufgaben übertragen werden. Sie spielen im Vereinigten Königreich eine wichtige Rolle. In Deutschland einzig vergleichbar sind die wenigen besonders zugelassenen Anwälte beim Bundesgerichtshof, die im Gegensatz zu normalen Rechtsanwälten vor diesem Gerichtshof plädieren dürfen.
Unvorstellbar, die hier jemand wie Nigel Farage aufgenommen werden könnte. Der Ex-Ukip-Vorsitzende, Brexit-Betreiber und notorische Sitzungs-Schwänzer im EU-Parlament brachte es nur zur Mitgliedschaft im East India Club. Der verschmolz wegen chronischen Mitgliedermangels bereits 1938 mit dem Sports Club, dann 1972 mit dem Public Schools Club und schließlich 1976 mit dem Devonshire Club.
Aber in keiner Hinsicht kommt die heutige Bedeutung und Exklusivität des Garrick stärker zum Ausdruck als dadurch, dass ihm mehrere Richter des 12-köpfigen Supreme Court of the United Kingdom angehören. Als dieser Supreme Court im Oktober 2009 die höchste britische Rechtsprechung vom House of Lords übernahm, gehörte bereits der Gerichtspräsident, Lord Phillips of Worth Matravers, dem Garrick Club an. Allerdings auch dem Brook’s. Sein Nachfolger, der jetzige Präsident des Supreme Court, Lord Neuberger of Abbotsbury, hat seine Mitglied im Garrick bereits öffentlich bestätigt.
Der Supreme Court ist bezüglich seiner Machtfülle vergleichbar mit dem 16-köpfigen Bundesverfassungsgericht und sitzt dieser Tage am Schalthebel für die Einleitung des Brexit. Die elf aktuellen Richter – ein Platz ist vakant – führen ab dem 5. Dezember eine viertägige öffentliche Anhörung zu der Frage durch, ob die Regierung das Parlament beteiligen muss, bevor sie der EU gemäß Artikel 50 EU-Vertrag offfiziell die Austrittsabsicht des Vereinigten Königreichs mitteilt. Anschließend entscheidet das Gericht.
Es ist der Garrick Club, in dessen Räumen Mick am 20. September mit uns Geburtstag feierte. Ein Familienmitglied mit „reziprokem“ Zutrittsrecht hatte den Rest der Familie eingeladen und auch meine Frau und mich auf die Gästeliste gesetzt.
Das Motto des Garrick lautet: “All the world’s a stage“. Das Aufnahmekriterium, sinngemäß übersetzt: „Lieber auf zehn über jeden Zweifel erhabene Männer verzichten, als einen schrecklichen Langweiler zulassen.“
Das Problem des Garrick: Er gehört zu den letzten seiner Art, die Frauen zwar nicht, die der White’s, den Zutritt, wohl aber die Mitgliedschaft verweigern. Darüber hatte sich im vergangenen Jahr sogar die Vizepräsidentin des Supreme Court, Baroness Brenda Hale, öffentlich erregt.
Gerade war nämlich auch der x-te Versuch, Frauen als Mitglieder zuzulassen, gescheitert. Der libertär-linke Labour-Politiker und langjährige Parlamentarier Bob Marshall-Andrews hatte den Antrag gestellt und George Pitcher, Klub-Mitglied und lange journalistischer Vize-Chef von Newsweek Europa, machte die ins Persönliche gehende Dimension des Streits entgegen allen Klub-Gepflogenheiten mit einem Guardian-Artikel öffentlich.
Im Ergebniss hatten statt der notwendigen zwei Drittel der abstimmenden Mitglieder nur 50,5-Prozent für den satzungsändernden Antrag gestimmt. „I regard it as quite shocking that so many of my colleagues belong to the Garrick, but they don’t see what all the fuss is about“, zitierte der Guardian die empörte Brenda Hale. Die hohe Richterin legte ihren männlichen Kollegen nahe, den Verein zu verlassen.
Dieselbe Forderung auf Austritt höchster Richter aus dem Garrick kommt auch aus der Anwaltschaft. Mehrere weibliche Kronanwälte kritisierten gegenüber der Presse, dass männnliche Kronanwälte im Garrick Club Networking mit den höchsten Richtern des Königreichs betreiben können und Frauen ausgeschlossen sind.
Sicher ist, dass sich der Präsident des Supreme Court Lord Neuberger auf die Seite derer geschlagen hat, die den Garrick aus einem Gentlemen’s in einen für beide Geschlechter offenen Members Club überführen wollen.
Offenheit jedenfalls ist das, was den Garrick vor allen anderen Klubs auszeichnet. George Pitcher beschrieb den Ausnahmecharakter das Klubs im Guardian so:
The club has always prided itself – really – on its diversity. Yes, it can be stuffy and old, but it’s not like other clubs. It’s funny and energetic and evergreen. It laughs at itself and at establishments. It embraces the boadest political spectrum and engages in good-natured argument across ist. It’s a sanctuary, not from women (there are always plenty of women guests there these days), but from pomposity.
Am 20. September standen wir abends am Eingang des Gebäudes und fragten den Portier, ob Micks Familie bereits eingetroffen wäre. Der verneinte.
endlich darf ich hinein
Dann aber schlug er meiner Frau und mir vor, doch während des Wartens oben an der Bar schon einmal allein einen Drink zu nehmen. Das fanden wir nicht nur unerwartet locker, sondern auch höchst verlockend. Aber wir hatten uns draußen vor dem Haus verabredet und schlugen das Angebot aus.
Adeles Doppelüberraschung für Mick – erst London, dann der Garrick Club – klappte perfekt. Adele hatte alles auf das Beste eingefädelt. Es begann ein sehr schöner Abend. Mit deutlich weniger Plüsch, als ich erwartet hatte, aber mit viel Samt, sehr vielen Gemälden und einigen Skulpturen. Viele Bilder zeigten Künstler. Jeder Zentimeter war ausgenutzt, sowohl im großen Treppenhaus als auch in den Räumen, die wir zu sehen bekamen. Im Eingangsbereich steht eine raffiniert-leichte durchbrochene Skulptur, die das vormalige Mitglied Yehudi Menuhin an der Geige zeigt.
Beim Essen in der ersten Etage saßen wir unmittelbar unter zweien der Bilder, die David Garrick zeigen. Natürlich gab es hier wie in der Lounge ein Stockwerk höher, wo wir zunächst unseren Gin Tonic getrunken hatten, im Prinzip ein strenges Fotografierverbot. Aber natürlich hatte der Guardian seinen Artikel vom 7. August 2015 (siehe Link-Adresse oben) mit einem Foto just aus dieser Lounge aufgemacht.
Am Tag nach der schönen Feier kamen meine Frau und ich auf dem Weg zu einer Theaterkasse in der Nähe des Klubs vorbei. Die Eingangspforte des Garrick stand offen. Der Portier war jetzt ein anderer als am Vorabend. Ich fragte ihn höflich, ob wir durch den offenen Türspalt einmal die Eingangstreppen fotografieren dürften.
Er verschloss sofort das Portal.
Nachtrag am 30. November
Wenn ich ab Montag per Livestream in das Londoner Gerichtshearing über den Brexit hinein höre, bin ich sehr gespannt, ob die Richter und die Richterin unter ihren komischen Perücken am Ende mehr Argumte für ein offenes Großbritannien in einem offenen Europa finden werden oder ob sie der Tory-Regierung erlauben, aus dem Vereinigten Königreich oder zumindest, wenn vielleicht andere Landesteile das Königreich verlassen, aus England ein Klubland zu machen.
Nachtrag am 6. Dezember
Jetzt haben tatsächlich auch mehrere Richter des Supreme Court of the United Kingdom das Thema ihres Brexit-Hearings wiederholt salopp „Leaving the club“ genannt. Dass es dabei auch um den Erhalt oder Verlust von Grundrechten geht, blendet diese Formulierung aus.