Artikel Süddeutsche 2004

Einfach nur bescheuert

Heute Vormittag gab der Bund der Steuerzahler in Berlin eine Pressekonferenz. Präsident Reiner Holznagel verkündete, dass der von seinem Verein so genannte „Steuerzahler-Gedenktag“ im Kalenderjahr 2015 auf den 11. Juli fällt. Erst ab übermorgen um 6:14 Uhr dürften die Bürger endlich wieder für das eigene Portemonnaie arbeiten. Grund: Die „volkswirtschaftliche Einkommensbelastungsquote“ hätte ein Niveau von 52,4 Prozent erreicht.

Grober Unfug.

Natürlich stimmt das nicht. Die Menschen in Deutschland arbeiten nicht während mehr als der Hälfte des Jahres nur für den Staat. Die Abgabenquote Deutschlands liegt in Wahrheit nur bei gut einem Drittel (so unter anderem die OECD) oder knapp 40 Prozent (so der Sachverständigenrat). Aber wir dürfen ganz sicher sein: Morgen oder am Sonnabend werden wieder zahlreiche Zeitungen inklusive diverser Regionalausgaben und viele Radio- und TV-Nachrichten diesen groben Unfug von 52,4 Prozent als eine  schlimme Wahrheit darstellen und als Skandal branntmarken.

Ich fragte Herrn Holznagel heute Morgen, ob er denn wenigstens zugesteht, dass die Kennzahl des Steuerzahlerbunds nur eine so genannte „unechte Quote“ ist. Es stritt das ab. Mein Eindruck war: Holznagel log nicht; er wusste es nicht besser. Aber das gilt nicht für alle in seinem Verein. Dafür habe ich zu viele Diskussionen mit Entscheidungsträgern des Steuerzahlerbunds geführt. Holznagels Vorgänger Karl-Heinz Däke zum Beispiel kannte den Makel im Rechenwerk ganz ohne Zweifel. Er versuchte nur, ihn zu verniedlichen oder zu vertuschen.

Vor gut eineinhalb Jahrzehnten beruhte der „Steuerzahlergedenktag“ des Bunds der Steuerzahler methodisch tatsächlich noch auf einer echten Quote. Sie lag zahlenmäßig rund 15 Prozentpunkte niedriger. Das ist lange her. Synchron zum Regierungswechsel von Helmut Kohl zu Gerhard Schröder fummelte der Steuerzahlerbund kräftig an seiner Berechnungsweise herum, bis er dann Jahr für Jahr behaupten konnte, die Abgabenquoten lägen über fünfzig Prozent.

Damit hatte der Steuerzahlerbund einen Riesenerfolg. Die Resonanz in den Medien war erschreckend stark. Zahlreiche Journalisten glaubten der neuen Rechenmethode und glauben ihr bis heute. Auf welche Weise der Steuerzahlerbund in Wahrheit Äpfel mit Birnen vergleicht, analysierte ich dann  – ich meine, als erster in Deutschland – unmittelbar nach einem damaligen „Steuerzahler-Gedenktag“ in der Süddeutschen Zeitung vom 16. Juli 2004 (Foto oben).

Volkseinkommen, Sozialprodukt, Nationaleinkommen

In seinem Bestreben, die Steuer- und Abgabenlast besonders hoch und drückend erscheinen zu lassen, macht sich der Steuerzahlerbund das vorhandene Nebeneinander unterschiedlicher volkswirtschaftlicher Einkommenskonzepte und Einkommensbezeichnungen zunutze. Er gibt vor eine Quote – also einen auf einem rechnerischen Bruch basierenden Prozentsatz – zu präsentieren. Aber der Zähler und der Nenner seines Bruchs benutezn völlig unterschiedliche Einkommensbegriffe.

Der Einkommensbegriff, den der Steuerzahlerbund im Zähler seines Bruchs verwendet, ist das so genannte Primäreinkommen. Darunter verstehen die Ökonomen im wesentlichen die tatsächlich am Markt erzielten kassenmäßigen Einkommen – also weitgehend das, was die Statistiker tatsächlich als reale Vorgänge erfassen und zählen können. Dazu gehören die Einnahmen der Arbeitnehmer, die ihnen die Arbeitgeber/Unternehmer brutto auszahlen sowie die Einnahmen der Unternehmer, die ihnen ihre Kunden für empfangene Waren und Dienstleistungen bezahlen. Der Saldo all dieser Primäreinkommen ist das Nationaleinkommen. Je nachdem, ob die Statistik auch den grob geschätzten Verschleiß des vorhandenen Vermögens (Straßen, Kanalisation, Deiche, Gebäude, Maschinen, Autos) erfassen soll, geht es dann um das Bruttonationaleinkommen oder das Nettonationaleinkommen. Die Summe der von den Menschen und den Unternehmen bezahlten Steuern und Abgaben ist in beiden Maßstäben identisch.

Im deutschsprachingen Raum – und nur hier – hat sich für das Nationaleinkommen das unübersetzbare Wort „Sozialprodukt“ eingebürgert (meist als Brutto- oder als Nettosozialprodukt) . Die Profis und alle offiziellen Stellen sagen aber auch im Inland längst in Übereinstimmung mit dem angelsächsischen Sprachgebrauch „Nationaleinkommen“. Nimmt man es ganz genau, heißt es Nationaleinkommen zu Marktpreisen, weil das tatsächlich am Markt realisierte Geld den Ausschlag gibt.

Konkretes Beispiel: Stellen wir uns einen selbständigen Tankstellenpächter vor.  Dessen Primäreinkommen besteht fast vollständig aus seinen Kasseneinnahmen für verkauften Treibstoff.  Von dem Geld kann er natürlich nur wenig behalten. Das meiste muss er sofort abgeben, an die Mineralöllieferanten und an den Staat. An den Staat zuerst in Form von Mineralölsteuern und Umsatzsteuern, dann in Form von Gewerbesteuer und schließlich in Form von Einkommensteuern. Das Primäreinkommen eines Arbeitnehmers direkt an den Staat bestehen dagegen nur aus Einkommensteuern beziehungsweise Lohnsteuer. Je nach Maßstab man dabei auch die Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung hinzuzählen.

Will man das persönliche, einkommensteuerpflichtige Einkommen der Unternehmer mit dem der Arbeitnehmer vergleichbar machen (manche Ökonomen sagen lieber: das Einkommen des „Faktors Arbeit“ mit dem des „Faktors Kapital“ vergleichen“), dann muss man von den Primäreinkommen der Unternehmer ihre unvermeidbaren und nur auf dem Betrieb beruhenden Zahlungen an den Staat abziehen. Die Kasseneinnahmen des Tankstellenpächters zum Beispiel kürzt man um die Mineralöl-, Umsatz- und Gewerbesteuer.  Volkswirtschaftlich betrifft diese Bereinigung deutlich mehr als die Hälfte des gesamten Steueraufkommens. Das verbleibende „Faktoreinkommen“ der Unternehmer (bzw des Kapitals) liegt also weit, weit unter dem ursprünglich am Markt erzielten Primäreinkommen. Die Ökonomen packen die Faktoreinkommen der Faktoren Kapital und Arbeit dann auch gerne zusammen und nennen das Ergebnis „Nationaleinkommen zu Herstellungspreisen“ Im deutschsprachigen Raum hat dieses Gebilde einen höchst eingängigen Namen erhalten, der genausowenig übersetzbar ist wie das Sozialprodukt: Volkseinkommen.

Zwischenergebnis: Das Nationaleinkommen zu Marktpreisen (=Sozialprodukt) unterscheidet sich vom Nationaleinkommen zu Herstellungspreisen (=Volkseinkommen) dadurch, dass der Maßstab zu Marktpreisen die ganzen am Markt für den Staat kassierten Steuern enthält, das Nationaleinkommen zu Herstellungspreisen oder Volkseinkommen nur die kleinere Hälfte der Steuern.

Eine „Quote“ nach dem Muster 52 Birnen von 100 Äpfeln

Und jetzt kommt der Clou: Der Steuerzahlerbund macht nämlich eine merkwürdige Bruchlandung Bruchrechnung. Er packt alle Steuern, die aus dem Primäreinkommen bezahlt werden, in den Zähler des Bruchs. Der Zähler enthält also neben der  Einkommensteuer auch die Gewerbesteuer, die Umsatzsteuer, die Mineralölsteuer und jede Menge vergleichbarer weiterer Steuern. IM Nenner des Bruchs, der ja den Vergleichsmaßstab bilden muss, setzt der Steuerzahlerbund das Nationaleinkommen zu Herstellungspreisen, also eine Kennzahl, in der die größere Hälfte der Steuern nicht enthalten ist.

Und dann sagt er ganz unschuldig; Die Menschen können die ganzen Steuern ja nur aus ihrem Einkommen bezahlen, alle zusammen also nur aus dem Volkseinkommen, nicht wahr?

Nein, nicht wahr!

Wenn der Tankställenpächter die ganze Mineralölsteuer, Umsatzsteuer und Gewerbesteuer aus seinem Anteil am Volkseinkommen bezahlen müsste, wäre er am schon am 2. Januar restlos überschuldet. Aber diese Gefahr droht ihm nicht. Er kann zahlen. Dafür steht ihm nämlich sein Primäreinkommen zur Verfügung.

Der Vorwurf an den Steuerzahlerbund etwas systematischer formuliert: Dieser Verein veröffentlicht eine unechte Quote und leugnet das. Er stellt sämliche Steuern und Abgaben der Volkswirtschaft, so umfassend, wie sie nur im Nationaleinkommen (zum Marktpreisen) enthalten sind, als Prozentsatz des Nationaleinkommens zur Faktorpreisen dar, obwohl in dem die größere Hälfte der Steuern und Abgaben fehlt. Er macht viele Menschen auf diese Weise glauben, der Staat wäre maßlos gierig. Das ist Gift für das gesellschaftliche Klima. Niemand darf das auf die leichte Schulter nehmen.

Bleibt also die Frage: Will uns der Bund der Steuerzahler nur für blöd verkaufen, oder ist er auch selber blöd? Ehrliche Antwort? Ich glaube, beides trifft zu.